Für die überreizten Sinne eines „townee“, des Städters, ist die frühe Morgenstunden-Stimmung im Hollington House bei Newbury wie eitel Balsam und lang ersehntes Gegengift: Dann und wann unterbricht der Schrei eines Vogels die pastorale Stille, eine Brise frische, würzige Luft regt Baumwipfel und Grashalme auf. Der Blick aus dem Fenster zeigt eine Szenerie, in der sich naturwüchsige und menschengemachte Versatzstücke in harmonischer Abfolge bis zum Horizont hin erstrecken.

Natur und Zivilisation

Kein Zaun stört das Auge des Betrachters beim Schweifen. Wie vielerorts in England wurde er auch hier durch einen sogenannten „Ha-ha“ (kein Druckfehler, er heißt tatsächlich so) ersetzt: einen tief in den Boden gezogenen Graben, der das Vieh vom Nachbargrund abhält, ohne den optischen Gesamteindruck der Landschaft zu beeinträchtigen. Eine Steinbalustrade, links und rechts von Riesenvasen mit Glockenblumen, Märzenbechern und Tulpen gesäumt, ein Krocket-Rasen, tiefgrüne, sanftgeschwungene Weiden, ein Kastanien- oder Magnolienbaum da, eine Eiche oder Rosenhecke dort: Es gibt wohl nicht viele Orte auf der Welt, wo Natur und Zivilisation in anmutigeren Konstellationen aufeinandertreffen als im südlichen England.

Der britische Tourismus ächzt zwar unter dem bleischweren Pfund (um die 21 Schilling), aber solange „merry England“ neben allen anderen Attraktionen, die es zu bieten hat, auch noch mit einer Countryside aufwarten kann, die im Lauf von Jahrhunderten relativer insularer Abgeschiedenheit und konstanter meteorologischer Bevorzugung zu ihrer unvergleichbaren Eigenheit herangewachsen ist, braucht den englischen Fremdenverkehrswerbern im Innersten nicht wirklich bange zu sein.

Ehe wir aber vollends in Schwärmen geraten, wird es Zeit für eine politische Nebenbemerkung. Die Beziehungen zwischen Stadt und Land sind in England derzeit nicht ungetrübt. Am ersten März versammelte sich eine buntscheckige Koalition aus Bauernschaft, Landadel und Ökofreaks zu einem Protestmarsch nach London: Die Labour-Partei, so die Demonstranten, gefährde das Landleben, indem sie die großen Ballungszentren politisch und finanziell bevorzuge.

Fuchsjagd und Vogelgezwitscher

Bei den einen herrscht Empörung über das Verbot der Fuchsjagd, andere entrüsten sich über das „Bauernsterben“ (ein Ausdruck, für den es kein englisches Äquivalent gibt). Der BCC-Journalist und Nebenerwerbsfarmer John Humphrys beklagte im „Spectator“, daß in den letzten 40 Jahren „96.000 Meilen Hecken, die ebenso sehr zu unserem Kulturerbe gehören wie unsere großen Kathedralen“, vom englischen Erdboden verschwunden seien.

Wir wollen uns hier auf keine politische Debatte einlassen und das Phänomen des „Countryside March“ lediglich als Nachweis für die enorme Rolle nehmen, die das Land im Gefühlsleben der Briten immer noch spielt. Vogelgezwitscher, Fuchsjagd, Kricket, Polo und vor allem die Gärtnerei, die sich in keinem anderen Land der Welt einer ähnlich intensiven publizistischen Zuwendung erfreuen dürfte – das sind Dinge, die ans englische Gemüt rühren. Selbst Popmusiker, die sich in ihrer Jugend klassenkämpferisch-revolutionär geben, entdecken im fortgeschrittenen Alter den Rückzug auf das ländliche Anwesen als bevorzugte Lebensform: Zur „Pop-Gentry“ („Merian“), die sich im südlichen Grüngürtel von London angesiedelt hat, zählen Phil Collins, Bryan Ferry, John Entwistle und Elton John.

Unser Fünftagestrip durch die „West Country“ (die Grafschaften Cornwall, Devon, Dorset, Somerset, Wiltshire, Bath und Bristol) führt uns zu einer der renommiertesten Weihestätten britischer Gärtnerskunst: dem von allen Reiseführern zu Recht in wärmsten Tönen empfohlenen Stourhead Garden (Wiltshire). Von 1744, dem Zeitpunkt an, da ein Urahn der Bankiersdynastie Hoare, Henry Hoare II. (alias „der Herrliche“), die Pläne für Stourhead entwarf und die ersten Arbeiten in Auftrag gab, wurde das Anwesen im Lauf der Jahrhunderte kontinuierlich zu einem der schönsten britischen Landschaftsgärten kultiviert.

Wie viele Adelige seiner Zeit hat Henry „The Magnificent“ seine Hauptinspirationen auf der obligaten Bildungsreise durch Kontinentaleuropa empfangen und genial für die englischen Gegebenheiten adaptiert. Um einen langgezogenen, idyllischen See herum gruppiert sich eine verschwenderische Artenvielfalt von Bäumen, Sträuchern und Blumen; Tempel, Brücken und eine künstliche Grotte fügen sich geschmackvoll in das Gesamtarrangement ein. Schade nur, daß der Beruf der Schmuck- oder Ziereremiten, die in früheren Jahrhunderten hier ihren Dienst versehen haben, inzwischen aus der Mode gekommen ist. Verwaltet wird Stourhead vom „National Trust“, einer gemeinnützigen Stiftung, die der größte private Grundbesitzer des Königreichs ist und einen schier unübersehbaren Bestand an historisch wertvollen Ländereien und Baulichkeiten im öffentlichen Interesse verwaltet. Den National Trust in seiner Eigenschaft als Bewahrer des nationalen Kulturerbes, der „Heritage“, zu unterstützen, ist für viele Briten übrigens Ehrensache: Ohne die vielen Freiwilligen, die das ganze Jahr über im Stourhead Garden unbezahlt mähen, säen, jäten oder anderweitig pflegend die Hände anlegen, wäre die Verwaltung des ausgedehnten Gutes ein Ding der Unmöglichkeit.

Rauhere Saiten

Auch das „Castle Drogo“, einige Hundert Kilometer weiter westlich nahe Exeter (Devon) gelegen, ist Teil des National-Trust-Imperiums. Hier, im Dartmoor, zieht die Natur andere, rauhere Saiten auf als in den lieblichen Gefielden von Somerset oder Wiltshire.

Castle Drogo ist das Lebenswerk eines britischen Kaufmanns, dessen Dasein von einer schweren oder vielleicht auch nur schwer verständlichen Tragik überschattet war: Julius Drewe (1856–1931), ein Lebensmittelhändler, der sich schon in jungen Jahren mit einer Kolonialwaren-Kette ein Vermögen erarbeitet hatte, besaß zwar Millionen, dafür aber keine adeligen Vorfahren. Um sich für diese Schmach schadlos zu halten, heckte Drewe ein Projekt aus, das zu Beginn des 20. Jh. doch einigermaßen unzeitgemäß erscheinen mußte: Auf einer mit einem schönen Panoramablick gesegneten Anhöhe im Dartmoor ließ er sich vom Architekten Edwin Luytens eine Burg errichten, die letzte, die in diesem Jahrhundert in Großbritannien gebaut wurde.

Wer sich dieses oder andere bauliche Juwelen der südwestenglischen Countryside auf stilvolle, wenn auch gewiß nicht die billigste Art, erschließen möchte, sollte sich bei seiner Fahrt über Land den Luxus gönnen, in einem Country House Hotel zu nächtigen.

Wir sind im Lauf unserer Reise in drei besonders berühmten Vertretern dieser Gattung eingekehrt: im eingangs erwähnten „Hollington House“ (in Berkshire nahe Newbury gelegen, gehört es damit, streng genommen, nicht zur „West Country“; Besitzer: John Guy), im „Gidleigh Park“ bei Chagford im Dartmoor (Besitzer: John Henderson) sowie im „Summer Lodge“ (bei Evershot, Dorset; Besitzer Margaret und Nigel Corbet). Alle drei Häuser bieten dem epikuräisch gesinnten Besucher Stimmung und Komfort in Hülle und Fülle: großzügigst angelegte Zimmer (besonders spektakulär die Junior-Suiten im „Hollington House“), weitläufige Gartenanlagen, Tennis-, Golf- und auch Landeplätze für den Helikopter, soferne der Gast in einem solchen anzureisen beabsichtigt.

Holzscheit im Kamin

Eichengetäfelte Eingangshallen, Kamine mit schmiedeeisernen Gittern, in denen das legendäre Holzscheit lustig prasselt, Ölgemälde mit den Konterfeis von Ahnherren oder nationalen Heldenfiguren sowie allerlei sonstige für das britische Landleben charakteristische Accessoires schaffen ein Ambiente, in dem man ständig meint, gleich müsse eine in historische Gewänder gekleidete Kate Winslett um die nächste Ecke biegen (falsch: Winslett ist notorische London-Bewohnerin).

Wahr ist allerdings, daß Häuser dieser Art beliebte Drehorte für Kostümschinken wie „Sense and sensibility“ sind, und von der charmanten „Summer Lodge“ wird berichtet, daß sich auch Großbritanniens Filmstar und Paraderomantiker Hugh Grant („Four weddings and a funeral“) dort außerordentlich wohl fühlen soll.

Der Charme dieser Häuser erschöpft sich freilich nicht in Äußerlichkeiten: Was entscheidend zu ihrer Einzigartigkeit beiträgt, ist die unaufdringliche Umsichtigkeit der Hauseigner und des Personals, die dem Gast stets das Gefühl vermitteln, daß hier alles auf sein Wohnbefinden ausgerichtet ist.

Zudem liefern die Country House Hotels den schlagenden Gegenbeweis zum alten kontinentaleuropäischen Vorurteil, daß das Essen in Großbritannien lediglich heiß und versalzen sein müsse, um Anklang zu finden: In allen drei Häusern war die Küche hervorragend.

Paul Henderson, der Patron von „Gidleigh Park“, ein gebürtiger Amerikaner, der sich schon vor zwanzig Jahren in Großbritannien niedergelassen hat, demonstrierte uns bei _einem denkwürdigen Abendessen überdies, daß die britischen Weinhänge manchen Tropfen hervorbringen, der den Vergleich mit Weinen aus ungleich bekannteren Anbaugebieten nicht zu scheuen braucht.

Last, but not least: Da nun einmal von Großbritannien die Rede ist, stießen wir bei unserer Reise durch die Country House Hotels auch auf die eine oder andere liebenswürdig-exzentrische Einzelheit, die gleichsam das individuelle Pünktchen auf dem i darstellt. In kontinentalen Breitengraden wird dem Hotelpersonal mit _einem Schildchen („Bitte nicht stören“) mitgeteilt, daß der Gast in uhe gelassen werden möchte. In „Hollington House“ wurden zu diesem Zweck Stoffkatzen an die Klinken geschnürt, die man des Abends vor die Tür setzen muß, um das Personal am Eintreten ins Zimmer zu hindern: „Put the cat out“ anstelle von „Do not disturb“. (Der Standard, Printausgabe)