
BEHÜTET und ERPRESST, GLÜCK und ZERRISSEN was treffen sich da für Worte. Was taugt ihr Gegensatz, wenn die Lage, aus der sie entstehen, sie zu Ein-und-Demselben macht.
Natürlich hat meine Großmutter nie im Leben den Satz gesagt: "Mir tickt die Wolke durch den Kopf." Aber, wenn ich über sie schreibe, muß sie den Satz sagen. Nicht meinetwegen, ihretwegen muß sie ihn sagen. Ich muß für sie diesen Satz erfinden, damit ihr Wecker im Satz das Ausmaß kriegt, das er in ihrer schwarzrot geflochtenen Ledertasche, ich möchte fast sagen LEBENSTASCHE hatte. Damit dieser Wecker ERPRESST und BEHÜTET, wenns mir gelingt, zärtlich erpreßt und monströs behütet. Und damit die Sätze die Pointen des Lebens einholen, muß die Großmutter HERZTIER sagen und: "Dein Herztier ist eine Maus." Sie muß die eine Großmutter werden, die sich zu Tode singt, weil ihr keine Krankheit beim Sterben helfen kann, und nicht die andere Großmutter, die sich genauso erfunden zu Tode betet.
Literatur ist ein fades Wort. Der Literatur bin ich keinen Satz schuldig, sondern mir selber bin ich Sätze schuldig. Mir selber und mir allein, weil ich das, was mich umgibt, sagen können will.
Ein andermal heißt es in einem Text: "Wo ist dieser Ort. Über den Morgen hinaus ist der Tag mir so wenig wie nie. (...) Ich hab noch ein Wort, noch ein kleines, ein zerrenden Sagen in mir. Ich hab noch zu reden fürs Wasser im Blick. Damit ich den Blick noch heben kann, hab ich zu sagen, wer uns die Lippen so schwer, wer uns das Wort so klein macht und wenig wie nie."
Die sogenannten Landsleute aus dem Banat haben mich Nestbeschmutzerin, Hure und Hexe genannt, der Geheimdienst hat mich zum Staatsfeind erklärt. Beide Seiten haben gegen mich gehetzt, Hand in Hand gearbeitet, auch wenn sie es nicht wußten. Sie brauchten keine Absprachen, denn sie hatten die gleichen Gründe: sie haßten das Aufwühlen ihrer geregelten Welt.
In Bezug auf beiderlei Attacken hab ich mir gedacht: Indem sie sich wehren, geben sie zu, daß sie sich in den Sätzen wiederfinden. Sie toben, weil sie sich nicht so haben wollen, wie sie sind, aber wenn sie nicht so wären, hätten sie die Wut zum Toben nicht.
Den Wörtern im Satz geht es vielleicht wie dem Kalb auf dem Diwan, denn es ist Augenhunger im Spiel beim Schreiben. Der Augenhunger frißt die Wörter, bis sie sich vergrößern. Der Augenhunger und die Vergrößerung sind ein Diktat des Satzes, sonst nichts. Außerhalb davon wehren die Wörter diese Vergrößerung ab, außerhalb wäre sie unangebracht, obszön. Jenseits des Augenhungers sind die Wörter wieder gewöhnlich, sie schrumpfen auf ihren Gebrauchswert zurück, in die Normalität der nichtschreibenden Leute. Zum Glück ist es so, ich brauche, um durch den Tag zu kommen, ständig gewöhnliche Wörter, die bei sich selber stehenbleiben, sonst würde ich die vergrößerten nicht aushalten.
Wenn Scherben funkeln, entsteht ein störrischer Glanz aber nie ein Ganzes. Und wenn wir im Einzelnen hängen bleiben und im Detail denken, besteht alles aus Scherben. Es bricht sich selbst, damit man es genau sehen kann. Und ich breche es noch einmal anders, damit ich darüber schreiben kann. Damit es im Wort annähernd das Ausmaß kriegt, das es den wirklichen Personen, die ich kenne, schuldig ist. Zwischen der Haltung zu ihnen und der Haltung zum Wort entscheidet sich der Satz, bis er gänzlich erfunden das wirklich Gewesene einigermaßen streifen kann.
Wem gehört das Ticken der Wolke im Kopf, wem das Kalb auf dem Diwan, wem die Großmutter, die sich zu Tode singen oder beten muß. Wem also gehört das Bedürfnis, "zu sagen, wer uns die Lippen so schwer macht, das Wort so klein und wenig wie nie." Es gehört keiner Dorfheimat und keiner Staatsheimat. Die im Augenhunger gestapelten Vergrößerungen gehören nur dem Text, der sie gebaut hat, um zu funktionieren. Loyalität dem Wirklichen gegenüber und Versessenheit aufs Flirren gehören im Satz zusammen. Das eine kommt ohne das andere nicht in Gang. Die Tragweite entsteht aus dem Festhalten des Gewesenen, das sich im Satz erst dann gültig behauptet, wenn ihm das Eins-zu-Eins entzogen worden ist, wenn es mit Erfundenem vermischt, eine völlig künstliche, weil mit Tricks gebaute Intimität annimmt und beim Lesen wieder frei gibt.
Der Augenhunger verpaßt den Wörtern diese Intimität, zieht sie in größtmögliche Nähe, eine die das Gelebte weiter trägt als es beim Erleben war. Nur durchs Erfinden wird die erlebte Wirklichkeit auf ihre Wahrheit zurück gezwungen. Eine Wahrheit durch Nähe, die ich den wirklichen Personen und Gegenständen schuldig bin. Mit Nähe meine ich nicht Einverständnis, sondern die kürzest mögliche Distanz. Seltsam nur, je kürzer die Distanz ist, um so schneller gelangt man durch sie aus der Mitte der Zugehörigkeit an den Rand. In einer überschaubaren Gemeinschaft, sei es ein Dorf oder ein Staat, weil beide sich selbst überwachen, wird man wegen des Augenhungers der Wörter vom Mitglied zum Feind.
Ich jedenfalls bin doppelt an den Rand gelangt, gleichzeitig an den der Dorfheimat und der Staatsheimat. Und das, obwohl der Augenhunger der Wörter nie aus Überheblichkeit kam, sondern aus der genauen Liebe.
Und es war der genauen Liebe geschuldet, wenn ich den Heimatbesitzern sagen mußte: Ihr habt diese Dorfheimat im Nationalsozialismus ins Verbrechen manövriert. Ich hatte mit 16, kaum in der Stadt, Gedichte von Paul Celan gelesen, ich habe sie fast nicht ausgehalten. Hier ging es um mehr als um Gedichte, denn ich mußte mir beim Lesen sagen, daß ich in eine banatschwäbische Welt geboren bin, mit einem Vater, mit Onkeln und Nachbarn, die Hitler dienten, als er Celans Eltern ermorden ließ. Celans Flucht aus Rumänien ist somit auch die Angst vor meinem Vater. Und Celans Selbstmord ist das Ende dieser Flucht. Ich genierte mich vor den Gedichten, wollte mich für diesen Vater entschuldigenden. Nur, wie kann man sich bei Gedichten entschuldigen und wie im Namen einer deutschen Minderheit, wenn diese 1960 und 1970 und die Jahre danach immer noch singt: "Jetzt fahren wir nach Engeland." Wenn dieser Vater sich auf den Hochzeiten in den frühen Morgen säuft, wenn ihm der SS-Soldat auf dem Panzer im Suff durch den Schädel schwimmt: Ein Widergänger mit glasigen Augen und schunkelnden Knien, der am Männertisch einer Hochzeit zwischen Flaschen und Blasmusik noch einmal unterwegs auf Eroberung ist. Einer, der beim Johlen das E-n-g-eland zieht, damit die Takte passen, damit er es auskosten kann. Dieser Männertisch war im Krieg, dachte ich, diese singende Kumpanei hat Paul Celan aus dem Leben gekippt. Sie praktizierte schon zur Hitler-Zeit die Abwechslung zwischen Treibjagd und deutschem Männerchor. Und es war schon damals kein ahnungsloses Liedersingen, bei dem die Hakenkreuze diese Deutschen in einem rumänischen Landstrich eitel machten. Sie hatten sich Hitlers Zunge geliehen, wurden fröhlich und derb. Sie hofften, daß ihre Maisfelder und Maulbeerbäume, Häuser und Straßen, ihr Kirchturm und Bahnhof eines Tages Nazideutschland heißen werden, daß Hitlers Krieg aus dieser deutschen Minderheit die Herren der Gegend machen wird.
Ich wollte meinen Vater lieben, wenn er nicht sang. Wenn ich mit ihm im LKW stundenlang durch zu große Maisfelder fuhr, wenn wir uns im Brummen des Autos nichts zu sagen hatten, eng nebeneinander saßen und schwiegen, bis er dann wieder einen Nazispruch sagte und schnippisch lachte, im Glauben, es sei ihm in der Einöde zu zweit ein guter Witz gelungen. Er ließ mich am Versuch der Liebe immer noch einmal aufs Neue scheitern, bis er starb. Wenn bei mir ein Gefühl anfing, machte er sich möglichst schnell widerlich, daß die Liebe sich sofort blamierte, wenn sie aufkam. Er war ein Marodeur, der auf dem Rückzug ins Zivile nie mehr heimisch wurde. Dieser Marodeur in seinem Kopf hat mir die Komplizenschaft zwischen Unbelehrbarkeit und Diktatur gezeigt. Und mich gewarnt vor der Diktatur, in der ich selber lebte. Ich sah Eigenschaften an ihm, die sich an sozialistischen Funktionären wiederholten.
Mein Vater ging mit 18 in die SS. Und ich 1971 über den Asphalt der Stadt als halbverstörtes Dorfkind und Gymnasiastin. Ich dachte mir: Jetzt bin ich 18, so alt wie er damals. Auf dem Asphalt standen die Sprüche, die Lüge, der Zwang und die Angst aller vor allen. Jeder in diesem Land wußte, das hier ist seit 30 Jahren eine Diktatur. Weil ich jetzt so alt wie mein Vater damals war, mußte ich mir auf diesem Asphalt sagen: Jetzt wiederholt sich die Jugend meines Vaters an mir, jetzt kommt es ganz allein auf mich an, was ich tu und was nicht. Der Vergleich meines Alters mit seiner Jugend führte zu der Einsicht: Privat anständig bleiben bedeutet öffentlich versagen. Überall hatten schmierige, hirnlose Figuren, Täter und Claqueure das Heft in der Hand. Jeder Aufstieg gründete aufs Drangsalieren anderer: Heucheln, Lauern, Denunziation, Fertigmache. Ich mußte mich damit abfinden, zu nichts imstande zu sein, außer zum Ekel vor den Zuständen und zum Erschrecken vor dem Zerbrechen von Menschen, die ich sehr mochte. Ich hatte keinerlei Möglichkeit, den Machtfiguren etwas anzutun, ich konnte nur nicht aufhören, sie zu beurteilen, meinen Ekel zu begründen. Mir in den Kopf zu sagen: Die bauen diese Staatsheimat auf Menschenverachtung, planen Angst und machen Friedhöfe. Bei denen hat kein Mensch eine Chance, wenn er nicht auf andere losgeht. Alle, die ich schätze, dürfen hier keinen Augenblick so sein, wie ich sie kenne. Den Freunden und mir hat diese Staatsheimat nicht nur die Fabrik und die Straßenbahn gestohlen, nein auch unsere Wohnungen, Tisch und Stuhl, das Kissen im Bett, das Besteck, sogar den Kamm, mit dem wir uns im Haar den Scheitel ziehen. Jedes Maß hat man hier auf den Kopf gestellt. Man hat uns hier zur Anwendung der dünnen Straßen gezwungen, die Wege auf die wir unseren Fuß noch setzen können, sind lediglich unsere eigenen Nerven.
Todesdrohungen, wie soll es anders sein, machen Todesangst. Die Überforderung der Nerven wurde zu unserer zweiten Natur. Denn man gewöhnt sich daran. Und wenn wieder mal etwas bedrohlich wird, spürt man, je genauer man es weiß, nur noch Watte. Von der pausenlosen Intensität wird man benommen. Übermüdete Wachheit, Raserei ausgestopft mit Watte. Man lernt, daß die Watte nicht still, sondern bloß unerbittlich ist. Die Gemütslage zwischen Räsonieren und Hinnehmen gleicht sich an. Der Gebrauch der Logik nimmt sich den Sinn. Das Einordnen der Dinge wird obsolet. Denn man räumt etwas aus dem Kopf, es ist Watte. Und an die frei gewordene Stelle tut man wieder Watte. Man nimmt ihr von innen ein Stückchen weg, damit sie von außen besser wachsen und eindringen kann. Es klingt seltsam, man ist sich durch Raserei und Gleichmut doppelt vorhanden. Nur ist der eine Zustand, sosehr er sich auch streckt, für den anderen nicht erreichbar. Man ist sich doppelt abhanden gekommen. Dann ist es soweit: Der Wind in einer Akazie, das Quietschen des Fahrstuhls, das Anknipsen eines Lichtschalters wird zum Geräusch der Gefahr. Aber auch die Lautlosigkeit mit der im Weg die Pfütze glänzt und auf dem Tisch die Suppe im Teller.
Ich hatte keine Angst mehr, ich gehörte ihr. Das ist ein schlimmeres Stadium, denn die erste Station hinter der Angst ist wahrscheinlich die letzte, bevor man den Verstand verliert. Der Augenhunger meines Großvaters wurde auf dem Asphalt mein Alltag. Die Dinge luden sich auf, ich mußte sie genau ansehen, wissend daß ihr Augenhunger sie so unberechenbar vergrößert, damit ich nicht merke, wie er mich dabei frißt. Ich funktionierte von außen, ging drei Jahre morgens um 5 Uhr in die Fabrik. Mir tickte der Wecker der Fabrik im Kopf. Ich gestattete mir keine Minute Verspätung. Eingeübter Morgentakt der Füße, den Kopf hob ich und sah zwischen Bäumen in den Himmel. Weil die Wörter einen Augenhunger haben, dachte ich: Auf dünnen Straßen muß man nicht auf seine Füße achten, sondern auf die Nerven.
Wenn ich darüber schreibe, ziehen sich die Weckerjahre meiner Großmutter über meine drei Fabrikjahre. Dann steht im Satz:
Mir tickt die Wolke durch den Kopf
und die Stadt sitzt krötenstill morgens
vor meinem Mantelknopf.
Die Anwendung der dünnen Straßen läuft auch durchs Leben meiner Mutter. Mit 17 wurde sie zu fünf Jahren Zwangsarbeit deportiert ins Lager in die heutige Ukraine. Dort grassierte der wilde Hunger, einer der sich von unserem täglich zahmen, grundlegend unterscheidet. Und der wilde Frost und das militärische Kommando. Meine Mutter hat Internierte wie sie verhungern, erfrieren und an der Zwangsarbeit sterben sehen. Drei Jahre nach der Heimkehr aus dem Lager kam ich zur Welt, die Deportation steckte noch in ihr und streute sich in meine Kindheit. Wenn ich essen sollte, sprach sie vom grausigen Hunger in Rußland, bis mir kein Essen mehr schmeckte. Wenn sie mich kämmte, redete sie vom Kahlscheren im Lager, bis ich kein Recht mehr auf meine Haare hatte. Wenn ich abends schlafen sollte, erwähnte sie den gefrorenen Mond über der Steppe, bis mich keine Decke und kein Ofen mehr wärmten. Ich verstand die Inhalte nicht, aber der Schrecken übertrug sich umso mehr. Schrecken ohne Inhalt alarmiert ein Kind unverantwortlich. Sie sah doch, daß ich nicht verstand, worum es geht. Es reichte ihr, daß sie mir weh tun konnte. Hätte sie doch gewartet, denn mit 17, also in ihrem Alter von damals, hätte ich begriffen, der Schrecken wäre nicht mehr ohne Inhalt dahergekommen. Aber da weigerte sie sich, Auskunft zu geben. Sie erwähnte das Lager nicht mehr, behielt ihre dünnen Straßen für sich. Seit ich meine eigenen dünnen Straßen habe, verausgabt sie ihre Beschädigung nur noch in Handgriffen, hoffend daß ich diese nicht durchschaue.
Die Anwendung der dünnen Straßen kenne ich nur von einem Mann in ihrem Alter, den sie nicht kennt, der deportiert war wie sie. Ich nenne ihn Franz. Ich bin den dünnen Straßen nach mit Franz in die Ukraine gereist, ins DONBASS-Gebiet. Die Städte der Arbeitslager heißen Dnjepropetrovsk, Gorlovka, Donezk, Enakieva, Krivoi-Rog. Da, wo in jedem Park ein Panzer aus dem Zweiten Weltkrieg steht, in jedem Zentrum ein Lenin, hoch wie ein Turm, von der Kohle und Metallurgie nachtschwarz in der Sonne, knüpfen sich, wenns abends dunkel wird, die Lichtfäden der Sterne nicht wie gewohnt zum kleinen und zum großen Wagen, sondern zum kleinen und zum großen Panzer. Und wenn man dies Bild abwehrt, zum kleinen und zum großen Kühlturm. Überall in den Gärten und als Sträuße auf den Märkten sind Pfingstrosen. Die Pfingstrose ist die Blume der Ukraine. Zwischen allen Lenins und Panzern wird sie einem zur Sowjetblume, eine Pflanze im Siegeswahn. Als wäre der Krieg erst gestern gewesen, oder noch gar nicht vorbei, blüht sie hier zwischen jahrzehntelang mit frischer Ölfarbe gestrichenem Kriegsgerät. Alles Eisen, vom Wasserhahn in den Hotels bis zur Silhouette der Fabriken ist in der Ukraine kaputt, verrostetes Gerippe. Aber das Kriegsgerät ist auf Hochglanz poliert. Man schaut es an und es glänzt die Angst vor der Zivilität. Der aus dem Sowjetimperium entlassene Staat ist 60 Jahre nach dem Krieg immer noch ein Marodeur des Sieges. Tragisch an diesem so notwendigen Sieg über Hitler ist, daß man aus diesem Sieg nichts lernen durfte. Er durfte sich für den Einzelnen nicht lohnen, als individuelles Leben und privates Glück. Daß man außen siegen und innen für alle Tage danach zerbrochen sein kann, durfte keiner hier sagen. Statt seine Sieger danach zu fragen, erzwang der Staat die hysterisch verordnete, überwachte Siegesbeschwörung. Er versteckte dahinter die Repression. Wer sich als Marodeur nicht genügte, sich ein Stück zivile Würde in sein Leben wünschte, für den gab es den Gulag.