Natalie Dessay dominiert die Produktion der "Manon" mit vokaler Wendigkeit und intensiver Rollen- gestaltung.

Foto: Grand Théâtre
Genf - Natalie Dessay, die einst ihre internationale Karriere von der Wiener Staatsoper aus antrat, singt im Grand Théâtre von Genf die Manon in der Vertonung von Jules Massenet. Und es ist eine Neuproduktion (die Inszenierung stammt von Alain Garichot), die auf die Sopranistin mit den ziemlich einzigartigen Koloraturkünsten zugeschnitten ist.

Natalie Dessay, die sich wegen eines Problems an einem Stimmband einer Operation unterziehen musste und längere Zeit pausierte, verfügt bereits seit einem Jahr wieder über ihre sinnliche, lebensbejahende Stimme, mit der sie auch die heikelsten Partien mit Leichtigkeit meistert.

Wie sie in dieser Genfer Manon einmal mehr beweist, ist aber auch ihre darstellerische Leistungsfähigkeit außergewöhnlich. Wenn die junge, etwas leichtsinnige Manon, die von ihren Eltern ins Kloster geschickt wird, auf ihrer Reise dorthin Zwischenstation macht und den weiten Glockenrock ihres weißen Sommerkleides à la Grace Kelly schwingt, singt sie ihre erste Arie "Es ist meine erste Reise" in der kindlichen Unschuld des Teenagers mit dem adäquaten Rossschwanz der 50er-Jahre. Und momentweise blitzt die Neugierde auf die große weite Welt und deren Leidenschaften bei dieser zukünftigen Verführerin auf.

Der leere Raum

Schnell entschlossen flieht sie mit dem Chevalier Des Grieux (Stefano Secco) nach Paris, wo die beiden Turteltauben in einem leeren, engen Raum leben: Natalie Dessay in Büstenhalter und Höschen, darüber ein langer weißer Sa tinmantel (Kostüme: Claude Masson), der aber, wenn sie dem Geliebten wie eine Tänzerin in die Arme springt, den Blick auf die durchtrainierte Figur der kleinen Sängerin freigibt.

Manon verlässt den Geliebten, um das gesellschaftliche Leben einer Kurtisane zu führen - Bälle, Spielsäle und eifersüchtige ältere Herren. Letztere werden ihr zum Verhängnis, als sie ihren Geliebten Des Grieux, der zwischenzeitlich Priester wurde, wieder an sich fesselt und ihn zum Spielen anregt.

Er wird wegen Falschspiels angeklagt. Es kann der Comte Des Grieux (Alain Vernhes als Vater) seinen Sohn aber frei kaufen. Manon wird jedoch zur Deportation verurteilt. Sie stirbt in den Armen des Geliebten, der ihre Bewacher bestechen konnte, im Niemandsland auf einer Landstraße nach Le Havre.

Diese Genfer Produktion ist betont anti-naturalistisch. Man sieht eine dunkel gehaltene Bühne (Rudy Sabounghi) - mit geometrischen, nicht sehr ansprechenden Metallelementen. Der Chor, zu Beginn in langen schwarzen Mänteln, dann in schwarz-weißer Ballkleidung gehüllt, bleibt statisch und mahnend, trotz der heiteren Opéra-comique-Klänge, der Tanzmusik (Gavotte und Menuett) und der Ballszenen.

Kurz: eine kalvinistische, strenge, düstere Deutung von Massenets 1884 uraufgeführter Oper Manon , in der von Jean Calvin bis heute geprägten Stadt Genf. Bewusst gewählter Lichtblick ist die Darstellerin der Titelheldin, also Natalie Dessay. (DER STANDARD, Printausgabe vom 29.6.2004)