Brigitte Voykowitsch

Anna und Philip brachten Vorkenntnisse und reichlich bildliche Vorstellungen mit. Dank Märchen und einem Besuch der „Entführung aus dem Serail“. Von der Türkenbelagerung Wiens hatte ihnen die Lehrerin schon erzählt. Es gehen auch einige Kinder türkischer Herkunft in ihre Schule zuhause in Österreich. Und wenn von denen wiederum ein paar behaupten, wohl aus der Türkei gekommen zu sein, aber eigentlich zu den Kurden zu gehören, so hatte der Vater da ansatzweise Bildungsarbeit geleistet.

Die er nun auf seine eigene nüchterne Art fortsetzte. Istanbul, einzige Stadt der Welt, die auf zwei Kontinenten liegt, das war mit Karte in der Hand zwecks Anschaulichkeit schnell erklärt. Auch daß sie infolge der Wechselfälle der Geschichte schon diverse Namen hatte, einmal Byzanz und Konstantinopel hieß und Zentrum eines riesigen Reiches der Osmanen war. Schnell noch ein paar Worte zu Atatürk und der Republik und dann...

Hinein ins vergnügliche Besichtigen im Topkapi, dem einstigen Palast der Sultane. Über die architektonischen und künstlerischen Aspekte ist leicht reden, auch mit Kindern. Sammlungen von Waffen – darunter der berühmte smaragd- und diamantenbesetzte Topkapi-Dolch –, von Schmuck und Thronen sowie der Sultane und anderer früherer Topkapibewohner Gewänder sprechen für sich.

Aber wie war denn das Leben hier drin? Querverweise auf Märchenprinzen und Prinzessinnen tun’s ja wohl nicht. Da schon eher – bei allem Respekt für die einstigen Herrscher über ein gewaltiges Reich – eine Darstellung in Anlehnung an die Kriminalgeschichte des Vatikans. Denn die Dolche und sonstigen reichlich verfügbaren Waffen waren doch für die Beseitigung von Gegnern gedacht, und die gab es intern unter den Verwandten des jeweiligen Sultans und im weitläufigen Hofstaat zuhauf. Nein, fein ging’s nicht immer zu, aber das – die Osmanen sollen da in den Augen der Kinder auch wieder nicht zu den alleinigen Bösen gestempelt werden – trug zur Abwechslung in so manchen Herrscherhäusern dieser Welt bei. Und auch die eine oder andere Haremsfrau und Aspirantin auf die höchsten, für eine Frau erreichbaren Positionen am Hof wußte sich etwaiger Gegenspieler zu entledigen.

Womit frau als Besucherin dieser Stätte intriganten Wirkens bei einem weiteren zentralen Aspekt eines Palastes wäre. Bilder aus „Die Stille des Palastes“ kommen zurück. Der Film von Moufida Tlatli handelt selbstverständlich nicht von Topkapi. Aber die Lebensumstände so mancher Frau in ihrem fiktiven Werk dürften so weit nicht von den Rahmenbedingungen entfernt sein, die Frauen auch im Topkapi vorfanden. Eine kleine feministische Lektion für Anna – und Philip – ist unumgänglich. Und sie erweist sich als gar nicht so schwierig. Die jüngst in privaten Familienwirren abhanden gekommene Mutter hat da schon beste Vorarbeit geleistet und für zeitgemäße Rollenmodelle gesorgt.

Aber zur Erläuterung des Islam war sie offenkundig nicht mehr gekommen. Der Vater hatte sich davor so gedrückt wie vor dem Unterthema Kopftuch. Und die Frage kommt, kaum daß wir Topkapi verlassen haben, prompt: Warum tragen so viele Frauen schwarze Kopftücher? Das tun Frauen natürlich auch in Griechenland und einigen anderen südlichen Staaten Europas. Doch dort sind es die alten. Hier aber gibt es plötzlich so viele Junge, die noch dazu in lange schwarze Mäntel gehüllt sind, „das habe ich genau gesehen“, schiebt Anna schnell nach, quasi als Warnung, wir mögen uns nur bitte nicht um die Antwort herumzuschwindeln versuchen.

Emanzipation und Religion, dein Revier, bedeutet der Vater. Und die Islam-Spezifika deines, geht die Aufforderung an den Vater zurück. Warum waschen sich die Männer vor der Moschee die Füße? Und warum tun dies die Christen nicht vor der Kirche? Warum ist die Moschee voller Männer, wo bleiben die Frauen? Oder warum halten sie sich im Hintergrund? Ist das alles im Koran genau so vorgeschrieben?

Anna ringt uns noch rasch das Versprechen ab, daß wir später die im Rahmen des kurzen feministischen Exkurses erwähnte erste Frauenbibliothek der Türkei besuchen werden. Die verfügt schließlich auch über ein Fotoarchiv zum Thema Frauen vom Osmanischen Reich bis heute und gibt einen Frauentaschenkalender mit Arbeiten türkischer Künstlerinnen heraus.

Zunächst aber ist eine Kulturpause angesagt. Eine Schiffsfahrt samt kühlem Meereswind soll die heißgelaufenen Köpfe erfrischen. Klar, daß Philip nun enttäuscht ist, daß der Weg von Europa nach Asien nur einen kurzen Fährensprung ausmacht. Mit einer Vorausschau auf das kommende, ohnedies schon reichlich späte Mittagessen biegen wir eine Diskussion darüber ab, was denn nun das Asiatische oder Europäische an den Türken ist. Sollen wir am Ende gar noch auf die diffizilen Beziehungen zwischen der Türkei und Europa eingehen?

Wieder zurück in Europa, begeben wir uns gleich in jene Gegend Istanbuls, die einst diverse Westeuropäer als Wohn- und Arbeitssitz bevorzugten – die durch die Galata-Brücke vom eigentlichen Stambul getrennten Stadtteile Pera und Beyoglu, und da zunächst ins Pera Palas Hotel. Zu jenen alten Zeiten, als die Stadt noch Konstantinopel hieß und der alte Orientexpress bis Istanbul durchfuhr, war das Pera Palas die erste Adresse in der Stadt.

In der Patisserie des Hotels lassen sich Kindermünder leicht stopfen. Und über die zahllosen Berühmtheiten zu erzählen, die hier schon abgestiegen sind, unter ihnen Agatha Christie, erfordert keine Harrer und keine Islamkunde. Wie auch die späteren Ziele unserer Reise – der große, ägyptisch genannte Bazar sowie Teegarten um Teegarten, gefolgt vom krönenden Besuch eines Hamam – relativ Erklärungs-Hürden-frei zu bewältigen sind.

Wasserpfeifen-rauchende Männer begeistern Philip, Anna beschließt, die Familien-Glassammlung um so nette kleine Teegläser zu bereichern. Die Vogelhändler, die beim Teegarten nahe der Yeni-Moschee ihren Treffpunkt haben, lenken ab von schwierigen religiösen, politischen und gesellschaftlichen Themen.

Bleibt eigentlich nur noch die Frage, warum wir jetzt, wo es ihn wieder gibt, nicht mit dem Orientexpress gefahren sind. Zumindest eine Strecke. Mangel an Zeit – und an Geld, lautet die enttäuschende Antwort des Vaters. Auch wenn wir alle in den langen Stunden im Irrgarten-ähnlichen großen Bazar nicht so viel Lira gelassen hätten. Aber hätten wir den Orientexpress nicht wenigstens besichtigen können?

Erbärmlicher Wissensstand der Erwachsenen. Darf man das? Kann man das? Wann und wo? Wir werden uns informieren. Und uns – versprochen – auf die nächste Reise besser vorbereiten. •

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