Wien – "Nach unserem gerade zu Ende gegangenen Türkeibesuch ergibt sich ein überwältigender Eindruck: Dort findet gerade eine stille Revolution von oben statt, eine totale Transformation", erklärte Botschafter Albert Rohan am Dienstag dem Standard .

Das gesamte gesellschaftliche, institutionelle und politische System der Türkei habe sich in den letzten beiden Jahren dramatisch verändert, unterstrich der frühere Generalsekretär des österreichischen Außenministeriums in seiner jetzigen Funktion als Berichterstatter der "Unabhängigen Türkei-Kommission", die aus bekannten Politikern besteht und die Herausforderungen eines möglichen EU-Beitritts der Türkei prüft.

Im legistischen Bereich habe Ankara bereits "alles gemacht, was man sich vorstellen kann", betonte der Spitzendiplomat, der allerdings nicht verhehlt, dass es bei der Implementierung der neuen Gesetze noch zu Schwierigkeiten komme: "Das dauert seine Zeit." Es gebe einen "gewissen Widerstand beharrender Personen und Institutionen" gegen die Reformen, die die Türkei für die EU fit machen sollen.

Die überwältigende Mehrheit der türkischen Bevölkerung stehe jedoch hinter dem Projekt des EU-Beitritts. Daher sei der Widerstand "eher still". Auch die Kurden würden auf einen EU-Beitritt hoffen, weil sie sich davon eine weitere Verbesserung ihrer Lage versprechen, meint Rohan.

"Die gesamte Transformation hängt vom Beitrittsprozess zur EU ab. Solange die Dynamik aufrechterhalten wird, geht der Reformprozess weiter", glaubt Rohan. "Würde aus irgendeinem Grund die Türkei von der EU zurückgewiesen, dann bräche der Reformprozess unter dem Druck der Islamisten, der Kemalisten und der Nationalisten zusammen. Das würde eine lange Phase der Instabilität für die Türkei mit sich bringen." Die EU würde hingegen "nach 40 Jahren Hinhaltetaktik völlig unglaubwürdig" werden, befürchtet der ehemals ranghöchste Diplomat Österreichs.

Bremser Österreich

Rohan zeigte sich allerdings besorgt, dass "Österreich wieder einmal den schwarzen Peter des Bremsers in der Hand hat und das Image des Negativen bekommt". Hierzulande sei eine "einmütige Ablehnung gegen die Türkei vorhanden, die alle Parteien erfasst". Österreich solle sich "der derzeitigen Dynamik anschließen und akzeptieren, dass Ankara ein Recht auf Aufnahme der Beitrittsverhandlungen habe".

Die entscheidenden Länder in der EU wie Deutschland, Großbritannien, Italien und Spanien seien bereits heute für den Beginn von Beitrittsverhandlungen mit der Türkei, erklärt Rohan. Auch Frankreichs Präsident Jacques Chirac habe nie gesagt, dass er grundsätzlich gegen einen türkischen EU-Beitritt sei. Denn innerhalb der Union würde sich die Ansicht durchsetzen, dass die Integration der Türkei ein wichtiges Signal für die islamische Welt sei, dass ein moderater Islam und Demokratie zu vereinbaren seien, so Rohan. Und das sei entscheidend für Europas Sicherheit.

Erdogan verlangt EU-Termin

Der türkische Ministerpräsident Recep Erdogan hat die Europäische Union aufgefordert, beim EU-Gipfel im Dezember einen Termin zur Aufnahme von Beitrittsgesprächen mit der Türkei zu bestimmen. "Sollte im Dezember kein Termin für den Beginn der Verhandlungen bestimmt werden, würde dies das türkische Volk äußerst traurig machen", sagte Erdogan am Dienstagabend in Sofia nach Gesprächen mit seinem bulgarischen Amtskollegen Simeon Sakskoburggotski. Die Türkei habe die EU-Kriterien erfüllt. (APA/DER STANDARD, Printausgabe, 7.7.2004)