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The Roots: The Tipping Point (Universal)

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Betrachtet man HipHop als das, was er ursprünglich war, nämlich die Fortführung von Funk-Musik mit anderen Mitteln, wird man in seiner, heute die Charts verstopfenden Modifikation, nur bedingt fündig. Längst hat sich das Genre aufgrund technischer Möglichkeiten auch ästhetisch weiterentwickelt, was, - bleiben wir höflich - den Ergebnissen nicht nur gut getan hat. Den Mainstream dominieren heute Produzenten, die mit dem Rückgrat eines Dieter Bohlen ihre Beats an jeden verkaufen, der bereit ist, die geforderte Summe zu überweisen. Ob die Kundschaft Britney Spears, Nas oder Kelly Family heißt - egal.

Wohltuend nehmen sich da seit Jahren die Grenzgänger The Roots aus Philadelphia aus. Grenzgänger deshalb, weil sie zwar bei der Industrie veröffentlichen und auch in Dimensionen Platten verkaufen, wie sie dem Mainstream genügen. Musikalisch sucht und findet man sein Heil jedoch abseits der Fließbandproduktionen der Neptunes, Timbaland und Co, ja sprach sich in den 90er-Jahren sogar explizit gegen die totale Vermarktung der HipHop-Kultur aus, um eben diesen Appendix, die Kultur, nicht zu gefährden. Damit sind ohnehin die Puff Daddys dieser Welt beschäftigt.

Aus dieser Haltung, der historischer und soziologischer Background wichtiger ist als eine weitere Goldene Schallplatte an der Häuslwand, beziehen die Roots ihr Arbeitsethos. Die Wege der Gründer Tariq Trotter alias MC Black Thought und Schlagzeuger Ahmir Khalib Thompson alias ?uestlove kreuzten sich Ende der 80er auf der Kunstschule. Mangels DJ-Equipment machte man aus der Not eine Tugend und begann als Band zu spielen, was in Folge zu einer Weltkarriere als eine der ersten "richtigen" HipHop-Bands führte. 1993 debütierte man und erspielte sich im Laufe des letzten Jahrzehnts eine Reputation, mit der man abseits der Hochglanzseite höchstes Ansehen genießt.

Zum erweiterten Freundeskreis zählen Erykah Badu, die auf dem 1999er Album Things Fall Apart einen Auftritt absolvierte, ebenso wie Jill Scott, die neben artverwandten Künstlern wie Talib Kweli oder Cody Chesnutt auf Phrenology, dem Vorgängerwerk zu dem nun eben erschienenen Album The Tipping Point zu hören waren. Mit einer Coverversion von Cody Chesnutt fuhren The Roots 2002 einen satten Hit ein: The Seed (2.0). Ein Stück, das in seiner simplen aber infizierenden Machart typisch für den Roots-Sound ist.

The Tipping Point schließt exakt dort an: Nach der rituellen Eröffnungsnummer, die für ein Intro zu lang, für eine richtige Nummer aber zu zerlaufen ausfällt, kommt I Don't Care. Die darin enthaltene Zeile "I don't care as long as the bassline is funky", erscheint wie ein Manifest: Ein satter, kurz und abgestoppt gespielter Bass, eine zwischen Funk und Rock angesiedelte Gitarre und eine Stimme, die dem Begriff Soul Sinn verleiht, machen den Song zu einer dieser unwiderstehlichen Roots-Nummern. Gleichzeitig verdeutlicht sie den Bandnamen in dem Sinn, als dass man seine Wurzeln eben im Funk der 70er hat.

Historisch versiert gibt man sich auch bei "Don't Say Nothin". Wobei damit weniger das an Knight Rider erinnernde Sample als das an Kraftwerks Trans Europa Express erinnernde Sound-Schnipsel gemeint ist. Jenem Song der Technopioniere, dessen Funkyness von den ersten HipHoppern erkannt und gesampelt wurde und den Deutschen einen Platz in der Säulenhalle des HipHop eingebracht hat. Unter dem Eindruck aller hier zu findenden Versiertheit ist The Tipping Point ein großartiges Black-Music-Album geworden.

Betonung auf Album. Kein Song stinkt hier ab. Die zehn Stücke ergeben eine an Ideen reiche Gesamtheit, wie sie nur Klassiker aufweisen. So viel lässt sich heute schon gefahrlos prognostizieren: Musik, die abseits modischer Trends bestehen wird. (Karl Fluch/DER STANDARD, Print-Ausgabe, 23. 7. 2004)