In Frankreich ziehen immer mehr Großstädter auf das Land und eröffnen ein oder mehrere Gästezimmer. Der neue Boom der "chambres d'hôte" ist aber nur bedingt ein Geschäft und die Gesetze streng.


Patrick, 44-jähriger Belgier und ehemaliger Finanzberater, hatte nach dem zweiten Banküberfall an seinem Arbeitsplatz endgültig genug vom Stadtleben. Er und seine Frau Karyn kauften in der Ardèche ein altes Bauernhaus, wo sie endlich ihrer heimlichen Leidenschaft, der Malerei, frönen können, und damit sie auch etwas zu beißen haben, richteten sie im letzten Jahr drei Gästezimmer ein.

Die Farbe war noch nicht getrocknet, standen die ersten Ferienreisenden vor der Tür; seither herrscht im Gut "Pêche de Vigne" (Weinbergpfirsich) ein reges Kommen und Gehen, und das Ehepaar ist so zufrieden wie seine Kinder, Ziegen, Hunde und Gäste.

"Nummer eins unter den geheimen Fantasien"

Ein "chambre d'hôte" (Gästezimmer) zu eröffnen ist laut dem Pariser Wochenmagazin L'Express die "Nummer eins unter den geheimen Fantasien" der Franzosen. Immer mehr Stadtbürger vor allem aus Paris wollten dem Stress, der Arbeitslosigkeit und der Umweltverschmutzung entfliehen und auf dem Land ein geruhsameres Leben finden.

Auf den Internetseiten bekannter Büros für Unternehmensgründungen wird die Sparte "Eröffnen eines Gästezimmers" jeweils am häufigsten angeklickt. Laut einer Meinungsumfrage haben schon 18 Prozent aller Großstädter entsprechende Demarchen geprüft oder zumindest in Betracht gezogen.

Zweieinhalb Millionen Franzosen tragen sich also mit dem Gedanken, der Stadt in den nächsten fünf Jahren den Rücken zu kehren und irgendwo ein oder mehrere Gästezimmer zu eröffnen.

Die nationale Branchenorganisation zählt jedes Jahr 1500 neue Gästezimmer. 31.013 sind es mittlerweile auf den wichtigsten Reiseführern und Internetanbietern wie "Gîtes de France", "Clévacances" oder "Fleurs de soleil". Und die Zahl der wilden, das heißt nirgends deklarierten Gästezimmer wird auf ein Vielfaches geschätzt.

Neue Gastgeberrolle

Die Franzosen waren bisher wenig vertraut mit der englischen Tradition des "Bed and Breakfast" und zogen Hotelzimmer oder Ferienwohnungen vor. Dies ändert sich nun mit dem Boom der "chambre d'hôte", die sich von den bereits verbreiteten Unterkünften auf dem Bauernhof mit mehreren Zimmern und einer Küche unterscheiden.

Wer im Gästezimmer übernachtet, nimmt das Mahl gemeinsam mit den Hausbesitzern ein. Diese mutieren also zu regelrechten Gastgebern - eine wahre Revolution für französische Mentalitäten. Die Franzosen auf dem Land galten zwar als freundlich, oft herzlich, aber in letzter Konsequenz doch reserviert und auf ihr Privatleben bedacht.

Experten warnen vor übertriebenen Vorstellungen

Die Branchenprofis der Internetanbieter warnen vor übertriebenen Vorstellungen. Erstens stellten die Einkünfte höchstens einen Nebenverdienst dar; ein Zimmer einzurichten koste rund 12.000 Euro, was bei Durchschnittspreisen von 41 Euro pro Übernachtung erst nach Jahren amortisiert sei.

Zweitens sei die französische Gesetzgebung streng. Wer in einem Reiseführer solcher Gästezimmer figurieren will, muss eine Reihe von Vorgaben erfüllen; erlaubt sind nur sechs Zimmer und das Servieren eines - einzigen und gleichen - Menüs für Gäste und Besitzer; andernfalls gelten die Vorschriften für Hotels und Restaurants.

Viele der neuen Gastwirte arbeiten zwölf Stunden am Tag, um das Frühstück zu bereiten, Anrufe zu beantworten, Reklamationen entgegenzunehmen, waschen, bügeln, kochen - und abends die Gästeschar zu unterhalten. Kein Wunder, sehnen sich manche "néoruraux" in die Stadt zurück. (DER STANDARD Printausgabe, 05.08.2004)