Claudia Werner Federico hatte vollkommen Recht. Diese Gegend zwischen den Bergen, an den Abhängen des Apennin, scheint tatsächlich der geeignetste Ort für eine Stadt wie diese gewesen zu sein. Relativ kurze Bauzeit und die Lage abseits der Hauptrouten ohne einen direkten Zugang zum Meer ermöglichten ihm dann bald sein malerisches Refugium. Wahrlich erhebend, welchen Aus- und Überblick man von hier genießen konnte, zugleich aber geschützt war vor unerwartetem Besuch – einfach ideal. Mit einem kleinen Ruckeln setzt sich der Lift in Bewegung und fährt zwischen den beiden Renaissancetürmen, die die Stadtkulisse beherrschen, empor. Unsere Wahl der Aufwärtsbewegung erspart uns nicht nur den Aufstieg über herzergreifend viele Stufen, wir stehen bei der Ankunft auch quasi mitten in Federicos Domizil. Ein Hilfsausdruck dafür, was sich uns erschließt. Der eigentliche Palazzo Ducale ist vielmehr eine wahre Ansammlung von Raumwundern. Baldesar Castiglione, der in seinem bedeutenden Buch „Cortegiano“ auch den Hofmann zum einflußreichen „uomo universale“ erhob, sprach sogar von einer „Stadt von Palästen“. Universale Künstler Was Federico von Montefeltro, Fürst des neben den Malatesta zweiten Herrschergeschlechts der Marken, zwischen 1444 und 1482 hier erbauen ließ, sucht auch in der weiteren Umgebung seinesgleichen. Für die Umsetzung holte er sich die profundesten Bildhauer, Architekten, Ingenieure und Mathematiker ganz Europas an den Hof, um zudem mit eigenen Plänen den alten Traum der idealen Stadt umzusetzen. Die Grundfesten haben bis heute feindlichen Heerscharen (sowohl kriegerischer als auch touristischer Natur) standgehalten. Als einzigem muß die Stadt dem Ansturm hoffnungsvoller Akademiker gerecht werden – deren Zahl schon mal mehr als das Doppelte der Einwohner betrug. Und das belebt die geschichtsträchtigen Mauern. Gründe genug auch für Marco, Urbino als idealen Ort für sein Studium zu wählen, die universalen Meister des Humanismus als Ansporn vor Augen, und für mich, meine Marginalien an Italienisch im Sprachkurs an der altehrwürdigen Uni ein klein wenig zu erweitern. Während Marco also gerade zielstrebig die Gesetze der Zentralperspektive des „uomo universale“ Leon Battista Alberti verfolgt, staune ich mich von einem Raum des Palazzos in den nächsten und komme von Piero della Francescas Werk endlich zu Raffael, von allen Größen der berühmteste hier geborene Meister. Um auf seinen Spuren weiterzuwandeln, lösen wir uns mit Mühe von den Räumlichkeiten des Palazzos, merken aber, daß wir sie nicht wirklich verlassen haben. Die Stadt erinnert immer wieder an Elemente des Haupthauses. Selbst die scheinbar unvermeidlichen, doch eher dezenten Eingeständnisse an die Reisenden in Form von Tongeschirr und Engelbüchlein verschwinden. Spätestens oben an der Fortezza, vorbei an Raffaels Haus, das heute mehr Eindruck großbürgerlichen Lebens als Originale preisgibt, hat man einen der besten Überblicke auf das hellrote Ziegelmeer der Renaissance. Neubauten sind außerhalb der Stadtmauer angesiedelt, der Kern blieb unberührt. Wären nicht die wiederholten Überredungsversuche meines Begleiters, die Testphase Welcher-Cappuccino-hat-den-unwiderstehlicheren-Schaum fortzusetzen, man wähnte sich beim Treten des historischen Pflasters zeitversetzt. Umfassende Studien Marcos Studien umfassen überhaupt immer stärker das breite Spektrum der Alltagskultur. Von der Piazza aus waren schon nach Tagen sämtliche Cafés mit Flair erkundet, und ein Tornatore-Film im Kino, das einst Theater war und in den Hang gebaute, ungeahnte Tiefen erschloß, der wöchentliche Pflichttermin. Was mein bescheidenes sprachliches Anliegen betrifft, war das „universale“ bald illusorisch, weil stark ferial beeinträchtigt und verlagerte sich auf linguistische Bastelexperimente in der Praxis. Um damit nicht zweifelhafte Bekanntheit zu erlangen, schien ein vorübergehender Studienortswechsel – in der gesamten Region am besten per Auto, mit Fahrrad im Gepäck – willkommener Anlaß. Auch als Ausgangspunkt für Unterfangen solcher Art erweist sich die Stadt als geeignet. Wie Urbino selbst sind die Marken vor allem im Hinterland verschont vom großen Ansturm. Deshalb schlägt Marco jenen Weg vor, den bereits die Römer zur Überwindung des Apenninenzuges erprobten. Wir folgen also eine Zeitlang der antiken Via Flaminia, ausgehend von Fossombrone, weiter durch die Furlo-Schlucht am Metauro entlang bis hin zur Küstenstadt Fano zum eigentlichen Eingang. Mein Begleiter scheint der Historie bereits müde und verlangt nach Meer, läßt sich aber dann doch vom lockenden Süden und zuvor einem kleinen, erholsamen Abstecher ins Landesinnere mit Erprobung der (Übernachtungs-) Möglichkeiten des Agritourismo – mit Urlaub am Bauernhof nicht ganz adäquat übersetzt – überzeugen. Kontrolliert Italienisch-Biologisches schmeckt einfach wieder anders, und die Umgebung tut ihr Übriges. Orte wie Mondavio mit Befestigungstürmen des vielerorts in den Marken tätigen Francesco di Martini, deren Wehrgräben bestens als Spielfläche genützt werden können, laden ein, die Zeit beim Stehenbleiben zu beobachten. Was ich auch mit schier endloser Muße tue, Marco jedoch bald dazu veranlaßt, das Rad aus dem Kofferraum zu holen, um zielstrebig Richtung Adria zu treten. Als ich ihn, wie vereinbart, vor Senegallia einhole, ist die Enttäuschung eine gemeinsame. Doch der hinter den drohenden Hotelketten beginnende Stadtkern der römischen Kolonie entschädigt, besonders am samstäglichen Markt. Nach diesen wenigen Adriaeindrücken, wo sich in den letzten Jahrzehnten einfach nichts an der Sonnenschirmfront geändert hat und das ökonomische Zentrum der Region eben leider auch so aussieht, bin ich einig mit dem Co-Piloten, Ancona links liegenzulassen und rechts weiter – einfach geradeaus – bis in südlichere Gefilde zu reisen. Unglaublicher Blick Nach San Benedetto del Tronto, dem letzten, auch nur wegen seines Palmensaums in Erinnerung haftenden Küstenort der Marken, verlassen wir das Maritime und dringen erneut ins Hinterland vor – wobei wir diese Route nun endgültig beibehalten. Als reizvollste Erholungspause erweist sich Ascoli Piceno. Ein (relativ) früher Sonntagvormittag verleiht dieser Stadt aus Travertinstein ein unvergleichliches Schattenspiel, und der verschlafene Hauptplatz eignet sich bestens fürs aktive Aufwachen. Hier, wo die Straßen „Rua“ statt „Via“ heißen, mischen sich Epochen wie fremde Einflüsse und läßt sich italisch-orientalische Luft atmen. Einige Schluck Anisschnaps lenken die Konzentration meines Beifahrers auf der Weiterfahrt durch die kurvenreichen Sibillinischen Berge, die bereits Züge der Abruzzen aufweisen, von der Umgebung ab. Dabei sind gerade die Kurvenerlebnisse das Faszinierende an der Region, da sich immer ein Panorama auftut, mit dem man nicht gerechnet hat und das eine weit überragendere Landschaft preisgibt. Sie ist hier charakteristisch für die Marken: genügsam und doch einladend. Möglichkeiten bieten sich an, sind aber niemals aufdringlich: sich die Beine zu vertreten, in die Pedale – oder einfach leiser zu treten. Da wir aber gerade letzteres an diesem stark ausgedehnten Wochenende zur Genüge ausgekostet haben und die Uni zwar problemlos ohne uns, wir künftig wahrscheinlich kaum ohne sie leben können, treten wir lieber den Rückweg über Macerata an. Nicht nur, weil es eine weitere inspirative Uni-Stadt und damit kurzfristige Gewissensberuhigung ist; vielmehr wollen wir uns Eindruck vom „Sferisterio“ verschaffen, der Opernarena, bei der sich Insider über den jährlichen Ansturm auf Verona wundern, wo doch hier viel höhere Qualität ihren Platz hat. Doch wohlweislich wundert man sich weiterhin im Stillen. Genauso zeigt sich bei der Rückkunft auch unser Ausgangspunkt gerade recht, um die gewonnenen Eindrücke wirken zu lassen. Geheimtip ist er natürlich keiner mehr, wenn man das Wort nur ausspricht; als belebender Ort für das individuelle „rinascimento“ aber ist Urbino ein wahrlich geeigneter Platz. Einfach ideal eben. • © 1998 DER STANDARD, Samstag/Sonntag, 14./15. Februar 1998 Automatically processed by COMLAB NewsMaker