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Wien - Ihren bizarr-theatralischen und -dramatischen Auftritt bei den Eröffnungsfeierlichkeiten der Olympischen Spiele in Athen als die Weltozeane verkörpernde gute Urmutter, aus der alles Leben zu deren Zufriedenheit gekrochen kam ("You have done good for yourselves, since you left my wet embrace!"), haben zwar jüngst Milliarden Menschen weltweit vor den Fernsehapparaten verfolgt. Allerdings dürfte es der dort präsentierte neue Song Oceania im Gegensatz zu früheren Arbeiten wie Bachelorette, Venus As A Boy oder Isobel doch erheblich schwer haben, in die Hitparaden zu kommen.

Das 37-jährige isländische Gesamtkunstwerk Björk Gudmundsdottir hat sich nach ihrem Karrierebeginn mit der düsteren Band Kukl und den ersten weltweiten Erfolgen der bis 1992 bestehenden Formation Sugarcubes seit nunmehr über einem Jahrzehnt solo stets mit einem beschäftigt. Es geht bei dieser hochenergetischen wie manchmal im beinahe hysterischen Kontext zu lesenden vitalen Sängerin auf Alben wie Homogenic oder Vespertine vor allem darum, das Spektrum des üblichen Popkontextes zu erweitern beziehungsweise zu sprengen.

Das machte Björk über die Jahre nicht nur zu einem hoch geschätzten Popstar; es machte sie auch zu einem unerhörten und damit ungehörten Weltstar. Jeder kennt heute Björk, jeder schätzt sie - und doch tun sich nur wenige ein mehrmaliges Hören ihres jeweils aktuellen Albums an.

Singen heißt sprechen

Daran wird auch das jetzt erscheinende neue Werk Medúlla wenig ändern. Nach Ausflügen auf den eleganten Dancefloor und in die etwas weltoffener als im harten Kern des Genres angelegte Experimentalelektronik hat Björk auf ihrem sechsten Soloalbum eine erneute Radikalisierung gewagt. Sie hat Medúlla nahezu ausschließlich der menschlichen Stimme als natürlichstem und ursprünglichstem Instrument gewidmet.

Menschliche Stimme bedeutet in diesem Zusammenhang nicht nur: unverkennbar guttural im eigenwilligen Englisch schreiende, gurrende wispernde, himmelhoch jauchzende und beim Strafestehen in der Kindergartenecke aufgenommene kindliche Beschwerderaunzer oder aus vollem Herzen im Diskant tirilierte Lieder von Björk selbst. Die tritt hier immer wieder auch auf mehreren Tonspuren mit sich selbst in Dialog. Menschliche Stimme bedeutet auch: Klassenarbeit!

So finden sich auf den 14 Kompositionen von Medúlla nicht nur solo auf Isländisch interpretierte freie Improvisationen wie Vökuró oder Midvi- kudags. Mit Gästen wie dem früher von Faith No More und derzeit unter anderem von Fantomas bekannten amerikanischen Gesangsextremisten Mike Patton und dem sonst bei den US-HipHoppern The Roots beschäftigten Rahzel ("The human Beatbox") wird beinahe ohne unterstützende technische Verfremdungseffekte eine Vokalmusik generiert, der man erst beim genauen Zuhören anmerkt, dass hier kein Instrument außer den Stimmbändern und dem Körper als Resonanzraum zum Einsatz kommt.

Bis auf wenige Ausnahmen - Björk programmiert manchmal Basssynthesizer oder Drumbeats - wird die musikalische Begleitung Björks ausschließlich von Chören getragen. Und das klingt tatsächlich neu und erfrischend.

Während in der Popmusik bis dato diverse, je nach Produktionsbudget gebuchte Kinder-, Freizeit- oder Gospelchöre gewöhnlich dafür Sorge zu tragen hatten, dass die von ihnen behübschten Lieder dadurch künstlerisch wertvoller, erhaben-zeitloser oder bloß auch kitschiger wurden, gelingt Björk in ihrer seit Jahren konsequent unternommenen Annäherung an so genannte E-Musik zumindest ansatzweise, für die Musiknische Pop aber auf jeden Fall etwas Neues.

Björk setzt Chorgesang nicht nur ornamental ein oder verstärkt die Arrangements nicht nur durch weite, elegische Gesangsbögen im Zeichen eines kollektiven Einverständnisses in das kompositorisch Vorgegebene. Ihr bisher verstörendstes Werk baut ganz grundsätzlich auf eine sonst in diesem Zusammenhang weit gehend außer Acht gelassene Technik des Widerstreits.

Das schmerzt zwar mitunter bis ins Mark (Medúlla = Knochenmark). In Zeiten aber, in denen es Maß zu halten gilt, tut diese Maßlosigkeit, diese beständige Suche nach Neuland - und sei es nur an alten Küsten - auf jeden Fall gut. Bloß, wer soll sich das jetzt wieder anhören?! (Christian Schachinger/DER STANDARD, Print-Ausgabe, 24. 8. 2004)