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Einige Jahre lang befasste sich der US-Physiker Richard Feynman mit dem bereits erwähnten Spaghetti-Phänomen. Der französischen Chemiker Hervé This-Benckardt, der am Collège de France forscht, oder Peter Barham, Professor für Polymerphysik an der Universität Bristol, haben - unabhängig voneinander - international durchaus erfolgreiche Bücher über die Chemie und Physik des Kochens verfasst.

Weder Feynman noch This oder Barham dürfen als skurrile Wissenschafter im Elfenbeinturm abgetan werden: Feynman legte 1959 mit einem Vortrag den Grundstein für die heute viele Lebensbereiche durchdringende Nanotechnologie. Neben vielem anderen entdeckte er auch auch die eigentliche Ursache für den Absturz des Space-Shuttles 1986. Im Jahr 1965 erhielt er den Physiknobelpreis für "fundamentale Leistungen in der Quantenelektrodynamik".

Am Nationalen Institut für Agrarforschung (INRA) in Montpellier in Südfrankreich setzte man sich im Rahmen der Getreideforschung intensiv mit den Komponenten von Nudeln auseinander, die auf den ersten Blick so kompliziert nicht scheinen: Grießmehl, Wasser. In manchen Regionen kommen auch noch Eier dazu, wobei Hartweizengrieß erwiesenermaßen Grundlage für die besten Qualitäten ist.

Vor allem im kochenden Wasser zeigen sich die Qualitäten von Hartweizengrießnudeln, die nicht innerhalb kürzester Zeit breiig werden. Weizen jeglicher Sorte besteht aus Stärke und Proteinen, die bei Kontakt mit Wasser (Teig kneten) klumpen. Diese Elemente sind bei Weichweizen in geringerer Menge vorhanden als bei Hartweizen, wobei alle harten Sorten auch ein spezielles Eiweiß enthalten, Gliadin 45. Die Stärkepartikel sind netzförmig gebunden und halten so die Substanz zusammen. Sie saugen sich beim Kochen voll und treten ins Wasser aus. Bei Weichweizen passiert dies innerhalb kürzester Zeit, bei Hartweizen hält das Proteingefüge stand.

Auffallend an der gesamten Materie ist, dass über die chemischen und physikalischen Vorgänge rund um die Speisenzubereitung so wenig bekannt ist. Und darunter ist nicht bloß Kochen zu verstehen, sondern jegliche Form der Aufbereitung wie die Herstellung von Emulsionen à la Majonäse. Erklärbar sei dies, so die persönliche Einschätzung von Thomas Vilgis, Physikprofessor am Max-Planck-Institut für Polymerforschung in Mainz, dass die Physik der "Weichen Materie", unter die auch der Lebensmittelbereich fällt, erst in den letzten 20 oder 30 Jahren ihren Stellenwert gefunden habe.

Nicht nur für Komponentenanalyse halten Nudeln her. "Spaghetti sind ein gutes Modellsystem", stellt Emil List, Nanotechniker und Professor am Institut für Festkörperphysik an der TU Graz fest, der auch das Christian-Doppler-Labor "Neuartige funktionalisierte Materialien" leitet. Auch in seinem Spezialgebiet, der Polymertechnik im Elektronikbereich, bemüht er gerne den Vergleich mit Spaghetti. "Fibrillen z. B. sind wie Spaghettibündel." Im Jahr 2001 verwendetet ein schweizerisch-pol- nisches Forschungsteam gekochte Spaghetti für Experimente zur Knotenfestigkeit. Mithilfe eines Knotens in einem gekochten Spaghetto wurde das Reißverhalten simuliert: Je komplizierter und verschlungener der Knoten, desto reißfester, da sich die Kräfte auf mehrere Biegungen besser verteilen. Die Erkenntnisse daraus sind für die Baustoffindustrie oder bei der Konstruktion von Seilen anwendbar.

Es geht vor allem um Aufklärung von Strukturen, die sich oft im Nanobereich bewegen. Und der, so List, "spielt sich genau genommen von fünf bis 100 Nanometer ab". Wobei es bei Lebensmittel auch manchmal mehrere Hundert Nanometer sind. "Es geht darum zu verstehen, wie Dinge funktionieren: zum Beispiel Emulsionen, bei denen es darum geht, Dinge physikalisch zu stabilisieren."

Emulsionen, und das ist eine Salat-Vinaigrette ebenso wie Wandfarbe, sind hochkomplexe Systeme, "die aber alle nach ähnlichen physikalischen Prinzipien funktionieren, da greift die Universalität der Physik", erklärt Thomas Vilgis, auch Hobbykoch und Autor populärwissenschaftlicher Bücher und Kolumnen in Kochzeitschriften.

Bei der Erforschung von Strukturen der Lebensmittel wird z. B. gerne die Röntgenmethode eingesetzt. Strahlen werden auf die Probe geworfen. "Aus der Beugung der Reflexion kann auf die Struktur geschlossen werden", erklärt Vilgis. Schmelz-und Fließverhalten wird mit kalorimetrischen Methoden analysiert. Man habe z. B. entdeckt, dass die "nicht kristallinen Bestandteile von Zucker bei 80 Grad Celsius zu schmelzen beginnen. Damit er gut formbar ist, müssen die kristallinen Bestandteile erhalten bleiben, die sich aber bei 120 Grad ebenfalls verflüssigen."

Peter Barham, der ebenfalls Hobbykoch, aber auch Pinguinspezialist ist, kooperiert mit Heston Blumenthal, dem Besitzer des von "Michelin" mit drei Sternen dekorierten Restaurants "The Fat Duck" in Bray westlich von London, der sich der Molekulargastronomie verschrieben hat. Die Disziplin erforscht Vorgänge rund um die Zubereitung von Speisen und Aggregatzuständen derselben. Alle zwei Jahre treffen sich Spitzenköche und Wissenschafter im sizilianischen Erice, um mit der Physik der Speisenzubereitung zu experimentieren und daraus neue Geschmackserkenntnisse zu ziehen, eine feine Sache für die Gourmets dieser Welt. Aber die "wahre Bedeutung" liege darin, so Vilgis, diese Erkenntnisse für die Industrialisierung von Prozessen in der Lebensmittelindustrie anwendbar zu machen. (Luzia Schrampf/DER STANDARD, Print-Ausgabe, 30. 8. 2004)