Die Fantasie im Wettstreit mit einer katastrophalen Wirklichkeit: "Howl's Moving Castle", das jüngste Meisterwerk des japanischen Animationskünstlers Hayao Miyazaki

Foto: Festival
Die Löwen sind am Lido omnipräsent. Im animierten Festivaltrailer von William Kentridge brüllt einer davon hinter Gitterstäben, da wachsen ihm plötzlich Flügel: Allzu symbolisch wird hier an das zehn Jahre zurückliegende Ende der Apartheid erinnert. Vor dem Palazzo del Cinema hat der Filmarchitekt Dante Ferretti gleich 60 vergoldete Löwen auf Sockeln platziert, wovon jeder den Namen eines Preisträgers trägt: Allzu monumental wird hier an die Festivalgeschichte erinnert.

In Jia Zhang-kes The World/ Shijie, dem bisher überzeugendsten Film im Wettbewerb, sind hingegen Wahrzeichen aller Länder auf engem Raum versammelt: der Eiffelturm, die Pyramiden von Gizeh, der schiefe Turm von Pisa etc. Sie gehören zu den Attraktionen des Worldparks in Peking, einem gigantischen Themenpark, den der Regisseur als allegorischen Schauplatz für das gegenwärtige China nützt, das längst in der Globalisierung angekommen ist.

Reale Grenzen

Jia bleibt jedoch seinem Blick auf die Arbeiterklasse treu: Wie schon in Platform stehen die Mitglieder einer Tanzgruppe im Mittelpunkt - meist aus dem Norden des Landes stammende Mädchen, und auch welche aus Russland, denen gleich nach der Ankunft der Pass abgenommen wird.

Sie sind alle mit der Sehnsucht nach der großen Welt in die chinesische Hauptstadt gekommen, aber in der imaginären Ersatzwelt des Vergnügungsparks finden sie recht schnell wieder enge Grenzen und strenge hierarchische Ordnungen vor.

Rund um die Entfremdung des Liebespaars Tao und Taisheng, beide sind Arbeiter im Park, erzählt Jia vom langsamen Scheitern im urbanen Umfeld, das er im permanenten Wandel zeigt. In den ungemein präzise kadrierten Einstellungen herrscht viel Bewegung, aber nur wenig Bewegungsfreiheit vor. Und die langen Fahrten in den Schwebebahnen des Parks, die mit elektronischer Musik unterlegt sind, sie führen nie fort, sondern bloß von einem Nichtort zum nächsten.

Ohne forcierte Dramatik, vielmehr in konzentrierten Zustandsbeschreibungen macht The World deutlich, dass Mobilität und Wohlstand im globalisierten China nur für recht wenige gelten. So sehr sich die Figuren auch in einer hybriden Umgebung bewegen, ihre Malaise bleibt ganz real, nur findet sie in der so plötzlich beschleunigten Welt kaum Ausdruck mehr; in SMS-Mitteilungen, die in Form von Animationsfilmen realisiert sind, werden in The World Innenwelten anschaulich.

Jia findet für den Wandel Chinas eine Fülle an treffenden Bildern: Baustellen, Autobahnen oder eben virtuelle Welten mitten in Peking. Er zeigt ein Land, dass sich wirtschaftlich öffnet, zugleich aber auch vom Rest der Welt abschottet. Vor allem jedoch demonstriert er anhand von Arbeitsmigranten, dass die neuen Versprechungen unerfüllt bleiben.

Gänzlich in eine gezeichnete Gegenwirklichkeit führt dagegen Howl's Moving Castle/ Hauro no ugoku shiro, der neue Film des japanischen Animationskünstlers Hayao Miyazaki (Chihiros Reise ins Zauberland). Das junge Mädchen Sophie wird darin durch den Fluch einer bösen Hexe in eine alte Frau verwandelt - und gerät so zur wohl weltweit ersten Zeichentrickheldin im Pensionsalter.

Wie schon in seinen bisherigen Filmen gibt es in Howl's Moving Castle keine Trennung mehr zwischen Real- und Geisterwelt - und die von Einfällen und originellen Figuren überbordende Erzählung lässt sich diesmal kaum wiedergeben. Die Fantasie tritt bei Miyazaki jedenfalls erneut in einen Wettstreit mit einer - in diesem Fall besonders katastrophalen - Wirklichkeit, wenn die zahlreichen spirituellen Wesen für einen großen Krieg als Geheimwaffe nutzbar gemacht werden sollen.

Es liegt an der greisen Sophie, die ambivalenten Geister zum Guten zu bekehren. In einem aus Müll gezimmerten und von einem beseelten Feuerdämon angetriebenen Schloss, das Türen in mehrere Parallelwelten bereithält, ist sie die pragmatische Haushälterin, die dem Fabelwesen Howl - mal ein schöner Jüngling, mal ein riesiger Greifvogel - tatkräftig zur Seite steht.

Howl's Moving Castle belegt aufs Neue eindrucksvoll, dass kein anderer Animationsfilmemacher derzeit über die Bandbreite eines Miyazaki verfügt: Historische Referenzen, Märchentopoi, Japans spiritualistische Tradition und genuine Eigenkreationen verwebt er zu einem schillernden Fantasiestück, das die Möglichkeiten des Zeichentricks ohne Rücksicht auf eine Logik des Sinns bedient.

Scheitern einer Ehe

In Maßen gegen gängige Erzählformen gerichtet ist auch Fran¸cois Ozons (Sous le sable) Wettbewerbsbeitrag 5x2, das von rückwärts aufbereitete Drama des Scheiterns einer Ehe: Zugleich spezifisch wie auch archetypisch sind die Etappen, in denen Valeria Bruni-Tedeschi und Stéphane Freiss - von der Scheidung über den Ehealltag und die Geburt des Kindes bis zur Hochzeit und zum ersten Treffen am Meer - eine fatale Dynamik zwischen zwei Liebenden veranschaulichen, die nur über die Gestik, das Verhältnis der Körper, die Inszenierung des Raums ausgetragen wird.

Schwermütige italienische Chansons von Paolo Conte und anderen kommentieren und ironisieren das Geschehen zusätzlich, das Ozon über weite Strecken des Films mit beachtlicher Präzision entwirft. Nur Nuancen im Verhalten des Paares oder auch die Wiederholung von Motiven der Institutionalisierung erzählen hier von einer sublimen Entfremdung, die umso mehr zu schmerzen beginnt, je näher das anfängliche Glück rückt, in dem dessen Versiegen schon unwiderrufbar eingeschrieben steht.

Erst das Ende, ein Betrug in der Hochzeitsnacht, der allzu thesenhaft gerät, und das Klischeebild eines Sonnenuntergangs trüben die Klarheit dieses Films leider dann ein wenig - dennoch: Einen solchen Film hätte man dem Stilisten Ozon nach mediokren Werken wie 8 Femmes eigentlich kaum mehr zugetraut. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 6. 9. 2004)