Die Carlisle Bay

Foto: Carlisle Bay

Die coolste Bibliothek der Welt

Foto: Carlisle Bay
Die kleine Insel südöstlich von Haiti versprach nicht viel außer unzähligen Buchten und gefährlichen Riffen. Und Columbus war in Eile im November 1493. Noch immer überzeugt, ins ferne Königreich Cipango gelangen zu können, von dem Marco Polo berichtet hatte, - und endlich jenes viele Gold, die Perlen und Spezereien mitzubringen, die er Isabella und Ferdinand versprochen hatte -, beschloss Columbus, nicht an Land zu gehen, als er an der Nordküste von Antigua entlangsegelte. Doch er zeichnete eine erste Karte und benannte die Insel nach einer Marienstatue in Sevilla, zu der er vor Antritt seiner zweiten Fahrt um Hilfe gebetet hatte.

Michèle Henry ist freundlich, aber sie hat alle Hände voll zu tun. Die sympathische Mittvierzigerin leitet das Museum von Antigua im Zentrum der Hauptstadt St. John's. Mitarbeiter hat sie kaum, ebenso wenig staatliche Unterstützungen, man ist ganz auf Eintrittsgelder, Freunde und den Verkauf im Museums-Shop angewiesen. Das Museum ist im einstigen Gerichtsgebäude in der Market Street untergebracht, ein hoher, bis unter das Dach geöffneter Raum. Auch wenn ihr Museum an chronischem Geldmangel leidet, ist Direktorin Henry stolz. In der Galerie des Museums, einem Holzverschlag mit zweifelhafter Treppe, wurde eine Forschungsbibliothek eröffnet. Ihre Bibliothek mag winzig sein, aber sie soll von der Geschichte erzählen.

Von den Siboneys und Arawaks, die lange vor Columbus auf Waladli, wie der ursprüngliche Name der Insel lautete, lebten, vom Reichtum der Kolonialisten, die die Insel 300 Jahre lang ausbeuteten, von der Geschichte des Zuckers und vom Alltag der rund 1,9 Millionen auf die British West Indies verschleppten Westafrikanern. Auch wenn das im Grunde hier niemand wirklich hören will.

Die Mehrzahl der Antiguaner ist heute im Tourismus beschäftigt. Vor allem Amerikaner, Kanadier und Europäer besuchen die 280 Quadratkilometer große Antilleninsel auf der Suche nach Strand, Sonne und deren täglichem Untergang. 386.000 waren es laut Statistik im vergangenen Jahr, Tendenz steigend. Das Geld geht nicht ganz an der Bevölkerung vorbei, aber für die Bewohner ist wie überall in der Karibik im mittleren Management eine unsichtbare Grenze des sozialen Aufstiegs eingebaut.

Im Shop unter der Bibliothek singt die Verkäuferin den Hit der Saison "We Ain't Leave The Party", eine Mischung aus Rap und Calypso, aggressivem Rezitativ und schmeichelweichen Steeldrums. Statt in ein Mikrofon singt sie in einen Kugelschreiber. Sie singt laut und gut, nächste Woche ist Karneval, neben der jährlichen Yachtregatta im April und den internationalen Cricketmatches das Hauptereignis des Jahres. Die West Indies haben eine exzellente Mannschaft. 2006 wird der Weltcup hier Station machen, rund 15.000 englische und australische Schlachtenbummler werden erwartet.

1632 trafen die ersten englischen Siedlerfamilien in Antigua ein. Bevor sie das Zuckerrohr entdeckten, das Antigua für die nächsten drei Jahrhunderte beherrschte, versuchten sie, Tabak, Ingwer und Baumwolle anzubauen. Die frühen Berichte der Siedler erzählen von einem rauen Leben, von Hunger, Hurricans und den Angriffen der Kariben und Franzosen.

Mit den ersten Zuckerrohrplantagen wurde Antigua unter englischer Herrschaft rasch zur best befestigten Insel der Karibik. Entlang der gesamten Küste errichteten die englischen Soldaten unter Nelson und Shelley eine Unzahl von Forts und Wachtürmen, sodass es weder Piraten noch Franzosen gelang, die kostbare Insel zu gefährden. Aber ein anderes Geschöpf zeigte den Engländern, wer die wahre Beherrscherin der Insel ist: die Stechmücke. Die Soldaten starben reihenweise an Gelbfieber und Malaria, und was die Mücke nicht schaffte, erledigten Bleivergiftung, Rum und pure Langeweile. "Mud and Blood" heißt eine Geschichte der Garnison auf Antigua und der Titel ist nicht schlecht gewählt.

Heute hat man die Mückenplage gut im Griff, zumindest in den Hotelresorts, die an der Südküste die alten Forts und Windmühlen der Zuckerrohrplantagen ersetzt haben. Im Carlisle Bay, eine halbe Stunde von St. John's entfernt, werden die Mücken täglich nach dem Afternoon-Tea ausgeräuchert. Das Carlisle Bay gehört zu den exklusivsten Hotels der Insel. Man will, erklärt der französische Manager, zum besten Hotel der Karibik werden.

Auch das Carlisle beherbergt eine Bibliothek - "die coolste Bibliothek der Welt", wie die Financial Times nach der Eröffnung 2003 ein wenig vollmundig verkündete. Sie ist ebenso klein wie die Museumsbibliothek in St. John's, doch gibt es zwei Unterschiede. Ein einziges der am Abend blau schimmernden Regale kostet mehr als der gesamte Bestand der Museumsbibliothek und kein Mensch denkt hier daran, ein Buch auszuborgen.

Man tut hier, was in Antigua zur Hauptbeschäftigung der Urlauber gehört: nichts. Man blickt auf Palmen, geht ein wenig spazierenschwimmen und versucht, die Gleichförmigkeit der Tage zu bewältigen. Essen ist eine Möglichkeit. Im Eastern Restaurant, das einen Mix aus indischer, chinesischer und japanischer Küche zu norwegischem Mineralwasser offeriert, gab es leider keine Essstäbchen: Man habe trotz intensiver Suche noch keine Stäbchenart gefunden, die sich mit der gebotenen Perfektion in das Designkonzept von Mary Fox Linton einpasst.

Im Indigo on the Beach, dem zweiten Restaurant, ist die Beleuchtung so dezent, dass zur Speisekarte eine kleine Taschenlampe serviert wird. Überhaupt ist die Ausstattung des Carlisle, könnte man sagen, überkomplett: Auf der Toilette über dem Klopapierhalter befindet sich ein Breitband-Internetanschluss. Für alle Fälle.

Ein halbe Stunde vom Carlisle entfernt liegt Betty's Hope. Kaum ein Tourist verirrt sich in die einstige Zuckerrohrplantage inmitten der Insel, die von Freunden des Museums zu einer Erinnerungsstätte umgebaut wurde. Von 1674 bis 1944 war Betty's Hope durchgehend im Besitz der Pflanzerfamilie Codrington aus Gloucestershire.

Fast 90 Prozent der Bevölkerung waren Sklaven und trotz vieler Aufstände gelang es den englischen Plantokraten über Jahrhunderte hindurch, bei der Herstellung des Sirups ihre ebenso brutale wie geschickte Herrschaft aufrechtzuerhalten. Die Deportierten, die den Transport überlebten, wurden nach ihrer Ankunft in Antigua durchmischt, jeder Erinnerung und ihrer Sprachen beraubt, mit neuen Namen versehen und christianisiert. Den Rest erledigten Folter und Hinrichtungen. Heute weisen nur noch wenige Spuren im antiguanischen Englisch auf die afrikanischen Ursprünge ihrer Sprecher hin.

Das Ende der Sklaverei 1834 erfolgte in Antigua spät. Es brachte zwar die Freiheit, aber keine ökonomische Verbesserung. Im Briefwechsel der Manager von Betty's Hope mit den Codringtons, die sich selten auf Antigua blicken ließen, finden sich präzise Berechnungen: Die neuen Arbeiter kosteten weniger als die einstmaligen Sklaven, also stimmte man ihrer Befreiung zu, denn wo sonst als auf den Plantagen sollten sie Arbeit finden?

1972 wurde Betty's Hope geschlossen. Angesichts fallender Weltmarktpreise lohnte sich der Zuckerrohranbau nicht mehr, neun Jahre danach wurde die Republik Antigua und Barbuda von England in die Unabhängigkeit entlassen.

Barbuda erreicht man bei gutem Wetter mit der Fähre von St. John's in etwa drei Stunden. Mit seinen einsamen pinkfarbenen Stränden unterhalb von Palmetto Beach und dem türkisfarbenen Meer kommt die Nebeninsel von Antigua gängigen Paradiesvorstellungen recht nahe.

Barbuda gehörte vollständig den Codringtons. 1685 pachtete Christopher Codrington, General der Westindischen Armee und Gouverneur von Antigua, die Insel von der englischen Krone, "für ein fettes Schaf pro Jahr, falls vorhanden", wie es im Vertrag hieß. Zur Versorgung der Royal Navy setzte er Rehe, Hirsche und Wildschweine aus, deren Nachfahren bis heute in den dichten Wäldern Barbudas leben. Nach Gewittern kann man altenglische Wildschweine betrachten, wie sie am Strand die vom Donner aufgescheuchten Krabben fressen.

Codrington behandelte "seine" Sklaven auf Barbuda im Vergleich zur Hölle auf Betty's Hope relativ gut. Sie arbeiteten autonom als Farmer und Fischer, als schlimmste Strafe galt, nach Antigua versetzt zu werden.

Das Leben ist heute beschaulich auf Barbuda. Die älteren Bewohner fangen Hummer, die jüngeren züchten, so weit es ihr Marihuanakonsum erlaubt, Kampfhunde und führen sie jeden Morgen im Hafen zum Schwimmen aus. Doch auch hier ändern sich die Zeiten. Im März hat das Beach Hotel eröffnet, ein Resort in arabisch-italienischem Stil, mit Butlerservice, Hubschrauberlandeplatz und prohibitiven Preisen. Vom Bett aus blickt man direkt auf den Strand.

Marcello Pigozzo, Manager des Hotels, wirkt müde, das Resort wurde in nur acht Monaten renoviert. Die Caribbean Clubs Group hat über 1,5 Millionen Dollar in den Ausbau investiert. Dabei wusste man, erzählt Pigozzo, noch vor einem Jahr nichts über die Insel, am Anfang habe er Barbuda mit Barbados verwechselt, aber Zögern sei seine Sache nicht, Geschwindigkeit zählt.

Diesmal könnte sich der entscheidungsfreudige Manager des Beach Hotels allerdings verrechnet haben. Er hat seine schnelle Rechnung ohne den Wirt gemacht, der Wirt der Insel heißt Wind: Die Riffe vor Palmetto Beach werden ständig, wie in der Geschichte der Insel von Desmond Nicholson nachzulesen ist, von riesigen Sandmengen überweht und versanden rasch. In den vergangenen 100 Jahren wuchs Barbuda an dieser Stelle im Schnitt um zehn Meter pro Jahr.

In zehn Jahren wird sich also das elegante Strandhotel um rund 100 Meter vom Meer entfernt haben, die Gäste werden die Schaumkronen der Wellen mit Fernrohren bewundern müssen. Aber dann ist Pigozzo wahrscheinlich bereits ganz wo anders. (Der Standard/rondo/10/9/2004)