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David Guterson:
Unsere Liebe Frau vom Wald.
€ 23,60/448 Seiten. Bertelsmann, München 2004.

Foto: Archiv
Sie ist sechzehn, leidet an Allergien und Asthma, wurde regelmäßig vergewaltigt, hat eine Abtreibung hinter sich und ist nicht getauft. Die vagabundierende Pilzesammlerin Ann ist nicht gerade das, was man als angepasstes Mädchen bezeichnen würde. Und doch hat sie mitten im Wald in Oregon, im November 1999, eine Vision, die sie als Marienerscheinung deutet.

So beginnt David Gutersons Roman: ein Setting, das sich zunächst wie eine Propagandaschrift katholischer Fundamentalisten anlässt. Welche möglichen Reaktionen auf das Unerhörte gibt es? Guterson spielt das anhand seiner Figuren durch. Da ist Carolyn, belesen, arbeitslos, eine, die im Wohnwagen lebt. Sie ist die Stimme der zynischen Vernunft. Mit dem ganzen Heiligenkram hat sie nichts zu schaffen. Sie durchschaut aber schnell, dass die um sich greifende Hysterie sich trefflich dazu eignet, Geld zu machen. Sie wirft sich zur Sprecherin der Visionärin auf, bemuttert sie, sammelt Spenden und baut trotz ihrer Abgebrühtheit eine emotionelle Beziehung zu Ann auf.

Pfarrer Collins, ein an sich selbst zweifelnder Priester, bemüht sich ehrlich, die Wahrheit herauszufinden. Außerdem bleibt er nicht unbeeindruckt von der sexuellen Anziehungskraft des schutzbedürftigen Kindmädchens. Pfarrer Butler wiederum ist der offizielle Abgesandte der Kirche. Der Pragmatiker will Unfug verhindern, Schwindler aufdecken und ist unter seiner pseudofreundlichen Tarnkappe ein verhinderter Inquisitor. Er vermutet nicht ohne Grund, dass Ann einfach eine Drogensüchtige mit Flashbacks ist. Und er hat Hunderte Fälle untersucht, bei denen die Leute im Pizzateig, einer Wolke oder sonst wo das Antlitz Marias zu erkennen glaubten.

Hinter den einzelnen sorgfältiger durchgezeichneten Personen steht das übers Internet eilends herbeigelockte "Volk", sozusagen der antike Chor, der das Geschehen mit seinen Kommentaren begleitet. Herausragender Repräsentant ist Tom, ein rassistischer, saufender Gewalttäter, der seinen eigenen Sohn hasst und ihn durch halb gewollte Fahrlässigkeit in den Rollstuhl gebracht hat. Das kleine Nest mit seinen arbeitslosen Holzfällern und Trailersiedlungen wird plötzlich von Tausenden Wundergläubigen heimgesucht. Die haben Autoaufkleber wie "Mein Boss ist ein jüdischer Zimmermann" oder "Nicht zu dicht auffahren, Gott schaut zu" und kennen sämtliche frommen Videos. Der Campingplatz vor dem Pfad in den Wald entwickelt sich binnen Tagen zu einem Irrenhaus: Hieronymus Bosch auf Budweiser, wie Carolyn bemerkt. Gut, die Leute sind total verblödet, aber irgendwie kann man es ihnen nicht übel nehmen, dass sie sich an jede noch so absurde Hoffnung klammern. Sie sind unheilbar krank, in miesen Verhältnissen aufgewachsen, ungebildet, manipuliert, unfähig, ihre psychischen Probleme zu analysieren, oder einfach nur sensationsgeil. Das Bild, das Guterson vom amerikanischen Landvolk zeichnet, ist alles andere als schmeichelhaft. Aber er denunziert die Menschen nicht. Sie sind irgendwie erbarmungswürdig in ihrer eingeschränkten Wahrnehmungsfähigkeit, und ihre Dummheit macht sie zu idealen ausbeutbaren Opfern. Und so passiert ja doch noch ein säkulares Wunder: Die Spenden der Pilger bewirken, dass aus dem aussterbenden Ort mit seinen immer mehr vergammelnden Kneipen ein profitables Tourismuszentrum wird. Und Pfarrer Collins bekommt ganz unverhofft ein schickes, neues Gotteshaus.

Guterson überfordert seine Leser nicht. Im Vergleich zu seinem Erfolgsroman Schnee, der auf Zedern fällt mutet Unsere Liebe Frau vom Wald nicht sonderlich intellektuell an. Tiefer gehende Analysen wird man hier nicht finden, dafür aber ein plastisches, realistisches Zustandsbild jener Gesellschaftsschicht, die auch bei Michael Moore ihre unvergesslichen Auftritte hat. Insofern ist dieser Roman zweifellos auch ein politisches Buch. "Charlton Heston ist mein Präsident", steht auf einem der Pilger-Autos. Da kann eigentlich nichts mehr schief gehen. (ALBUM/ DER STANDARD, Printausgabe, 11./12.9.2004)