Selbstlose Engelmacherin: Imelda Staunton erhielt für ihre Darstellung der Vera Drake ebenso den Goldenen Löwen wie der gleichnamige Film von Mike Leigh.

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Mike Leighs "Vera Drake", ein dichtes Drama um illegale Abtreibung, wurde auf dem 61. Filmfestival von Venedig mit dem Goldenen Löwen prämiert. Radikales Kino lieferten am Ende auch noch Claire Denis und Hou Hsiao-Hsien.


Venedig müsse man immer im Verhältnis zu Cannes betrachten, meinte Festivaldirektor Marco Müller vorab zum US-Branchenblatt Variety. Wenn man an der Croisette auf junges Kino setzt, reagiert die Mostra eben mit Arbeiten arrivierter Filmautoren - wie es heuer auch geschehen ist.

Gleichsam als Beweis dieser These mutet die Entscheidung der Jury unter Regisseur John Boorman an, Mike Leighs Vera Drake mit einem Goldenen Löwen auszuzeichnen, wurde der Film doch in Cannes - unverständlicherweise - abgelehnt. Das nuancenreiche Drama um eine Engelmacherin im England der 50er-Jahre war gewiss nicht der innovativste Film im Wettbewerb. Doch Leighs Qualität liegt in einer über Jahre perfektionierten Genauigkeit des Blicks auf Milieus sowie einer intensiven Schauspielerarbeit: Nicht umsonst wurde auch Imelda Staunton für ihre Darstellung prämiert.

Man würde Vera Drake jedoch Unrecht tun, ihn als betuliches Kammerspiel abzuurteilen. Formstreng lässt Leigh keine übertriebene Anteilnahme an der kleinen Frau zu; er wertet ihre Aktionen nicht, sondern untersucht gesellschaftliche Hintergründe. Vor dem Gesetz zeigt er sie in langen Einstellungen als jemanden, der sich nicht verteidigen kann, weil ihm für seine Taten die Begriffe fehlen.

Gerade im Vergleich zum zweiten Siegerfilm von Venedig, Alejandro Amenábars "Mar adentro" (Großer Preis der Jury; Darstellerpreis für Javier Bardem), wird deutlich, dass Leigh präzise ist, wo sich dieser auf Überwältigungsstrategien verlässt. Die Geschichte eines querschnittsgelähmten Mannes, der auf einen selbst bestimmten, würdigen Tod besteht, wird zum Rührstück mit massiver musikalischer Unterstützung.

Bardem vermag zwar seiner Figur mit knorrigem Charme viele Facetten abzugewinnen. Doch "Amenábar" ist ein zu bildverliebter Regisseur, um allein darauf zu vertrauen. Die Kamera schwebt im Gleitflug über galicische Landschaften und schickt Postkarten an unser Mitgefühl.

Radikaleres Kino konnte man am Lido am Ende anhand der neuen Filme von Claire Denis und des Taiwaners Hou Hsiao-Hsien studieren: Die französische Regisseurin entfernt sich in "L'intrus" mehr als je zuvor von narrativen Vorgaben und entwirft eine mythisch-fragmentarische Reflexion über einen älteren Mann (Michel Subor), der zu einem neuen Herz gelangen will - was ihn von der Schweiz über Korea bis nach Tahiti führt.

Die Bilder der Kamerafrau Agnés Godard entwickeln dabei eine äußerst haptische Qualität, die den Dingen eine eigentümliche Körperlichkeit zurückgibt, die nichts mehr konnotieren muss. Noch lange nach dem Kinobesuch verfolgen einen Bilder von Hunden, die im Schnee tollen, vernarbten Oberkörpern oder auch Lichtreflexionen am Meer, begleitet von den Gitarrenakkorden Stuart Staples', des Frontman der Tindersticks.

"Café Lumière", Hous Hommage an Ozu, besticht als Schule des Sehens: Unbewegte Einstellungen in Innenräumen wechseln auf Zugfahrten durch Tokio. Nur erzählerische Reste, eine Schwangerschaft, eine Spurensuche, findet man hier vor. Wie bei Ozu hat sich das Kino dem gewöhnlichen Lauf der Dinge anvertraut. Eine Ruhe, in der man ganz Betrachter wird. (DER STANDARD, Printausgabe vom 13.9.2004)