Hall/Tirol - Die Latte für die internationalen Literaturtage Sprachsalz, die von Freitag bis Sonntag zum zweiten Mal in Hall in Tirol stattfanden, lag hoch. Das Programm im vergangenen Jahr war exquisit gewesen, das Ambiente angenehm und die Säle voll. Peter Bichsel, damals einer der Lesenden, ließ den Organisatoren per TV-Interview ausrichten: "Werdet nicht besser - ihr seid schon gut genug." Er hat Recht, denn der Grat zwischen Eventkultur und inhaltlichem Anspruch, zwischen Vielfalt und Beliebigkeit ist schmal. Ein Festival ist auch ein Ausloten von Möglichkeiten und Formen, es ist ein Angebot, ein Versuch - wie die Literatur.

Um's Unterwegssein, Weitergehen und Nicht-ankommen-Können ging es oft in den Lesungen bei Sprachsalz. Franz Hodjak, der den Repressionen des rumänischen Ceaucescu-Regimes entfloh und 1992 die deutschsprachige Enklave Siebenbürgen Richtung Deutschland verließ, ist - nein, nicht mit dem Austrokoffer - dafür mit seinem neuen Roman Ein Koffer voller Sand angereist. Um Sprache als Instrument der Unterdrückung und als Möglichkeit der Selbstbehauptung ging es bei der großen Herta Müller. Auch sie ist eine Rumäniendeutsche, die bis zu ihrer Ausreise nach Deutschland 1987 Arbeits- und Publikationsverbot hatte.

Der in Sarajevo und Graz lebende Bosnier Dzevad Karahasan, ein passionierter Vermittler zwischen Christentum und Islam, war da und besang die Schönheit des Lebens, in dem Trauer immer mitschwingt. Ferdinand Schmatz lotete im Freien, auf einer wunderbaren Hotelterrasse mit Rundumblick auf Berge und Inntal, furios den Echo- und Hallraum der Städte Tokio und St. Petersburg aus. Es begann zu regnen, Schmatz las weiter, auch das Publikum blieb.

Gekommen ist zudem Alberto Manguel, der in Argentinien geboren wurde (wo er zum Vorlesekreis des blinden Jorge L. Borges gehörte), heute kanadischer Staatsbürger ist und in Frankreich lebt (u. a. in Gesellschaft seiner 50.000 Bücher umfassenden Bibliothek). Sein Buch Die Geschichte des Lesens ist ein Welterfolg, aus dem er neben seinem neuen Roman Stevenson unter Palmen in Hall las. Weitere Gäste: Yoko Tawada, Jacques Lederer, Norbert Mayer . . .

Eintritt wird dank Sponsoren und der Stadt für all dies keiner verlangt, das ist - wie die energiegeladene Arbeit des sechsköpfigen Organisationskomitees und der zahlreichen Helfer - eine feine Sache. Atemberaubend auch das Ambiente: Das Parkhotel, das Lois Welzenbachers strahlend weißes Turmhotel aus den 30er-Jahren mit dem trichterförmigen, schwarzen Neubau von Henke/Schreieck verbindet. In verschiedenen Räumen dieses Komplexes sowie im angeschlossenen Kursaal finden die zum Teil parallel laufenden Lesungen statt.

Streifzüge

So durchstreift man Hotel und Programm, entdeckt Überraschendes wie den in den USA lebenden gebürtigen Österreicher Harry Redl, der als Fotograf und Freund die Beat-Bewegung begleitete. Dazwischen geht man vielleicht an die Bar, schlendert zum kleinen See im Kurpark oder nach Absam, wo der Rosina Buecher 1797 die Muttergottes erschien. Und dann, dann hört man sich wieder Lesungen an, die von einer Welt erzählen, die furchtbar ist und schön und lustig und aus dem Lot, und keine Heimat macht sie wieder heil. Flaneuren, die lieber suchen als finden, ist eine Fahrt zum nächsten Sprachsalz unbedingt zu empfehlen, denn die zweite Ausgabe ist gut geworden, besser noch als die erste. Auch Bichsel war wieder da, als Zuhörer. Nicht das schlechteste Zeichen. (DER STANDARD, Printausgabe, 14.9.2004)