Illustration: Eichborn
In Berlin präsentierten Greno und Hans Magnus Enzensberger nun eine Humboldt-Edition.

Ein vor 235 Jahren geborener Radikalbotaniker als Universalgelehrter soll in diesen schweren Tagen, da Deutschland noch dazu Adolf Hitler als Hype wiederbegegnet, für Aufbruchsstimmung sorgen: Nicht nur Franz Greno war bei der Präsentation eines ehrgeizigen Editionsprojekts am Mittwoch in Berlin euphorisch, auch sonst spricht und schreibt es in diesen Tagen allerorten optimistisch: Humboldt, der "Mutmacher" (Der Spiegel). Humboldt, der "Kosmonaut" (Günther Jauch). Humboldt, der "die Vereinten Nationen der Wissenschaft begründete" (Joschka Fischer).

Drei umfängliche Bücher und ein Hörbuch erscheinen bei Eichborn in der Anderen Bibliothek. Deren Herausgeber Hans Magnus Enzensberger erweist sich einmal mehr als Intellektueller, der den Pass in die Tiefe des Raums beherrscht. Denn Alexander von Humboldt hat seine zeitgenössische Welt nicht nur ausführlich bereist, er hat darüber auch eine Menge geschrieben - er hat das Wissen seiner Zeit zusammengetragen und damit einen Schatz hinterlassen, mit dem Deutschland lange Zeit nicht viel anzufangen wusste. Das lag auch daran, dass die berühmte Humboldt-Universität zu Berlin nach dem Zweiten Weltkrieg in der DDR liegen blieb - sie war aber auch von Wilhelm von Humboldt, begründet worden, dem Bruder des jetzt zum größeren Goethe stilisierten Alexander.

Enzensberger: "Die Rede von der Wissensgesellschaft, die sich hierzulande meist in Absichtserklärungen erschöpft, hat Humboldt ernst genommen. Er hat als Universalgelehrter dem Begriff Bildung ein Gesicht verliehen und vorgemacht, wie wissenschaftliche Erkenntnisse aus dem Elfenbeinturm in das Bewusstsein der Gesellschaft dringen. Unser Bildungssystem ist bekanntlich dieser Herausforderung bis heute nicht gewachsen. Aber nur auf diesem Wege wird Deutschland in Zukunft ökonomisch überleben können."

In dieser Begründung fehlen eigentlich nur noch die Begriffe Synergie und Drittmittelfinanzierung. Dabei hat der Eichborn Verlag das 1,5 Millionen Euro schwere Unternehmen allein gestemmt, nicht ohne die Hintertür der Globalisierung: Die Texterfassung der komplizierten Druckvorlagen wurde in Peking vorgenommen, weil die Menschen dort, so Greno, auch noch eine Woche vor Weihnachten "bereit sind, Dinge zu tun", die in Deutschland ungetan bleiben.

Greno, der sich in den Achtzigerjahren einmal mit einer historisch-kritischen Karl-May-Ausgabe überhoben hat, ist das Original hinter dem Humboldt-Projekt. Die Bücher sind, wie es von der Anderen Bibliothek zu erwarten war, sehr schön geworden. Der Kosmos, Humboldts "Entwurf einer physischen Weltbeschreibung", wird mit einem neunzigtafeligen Atlas ausgeliefert.

"Ich habe den tollen Einfall", schrieb Humboldt, "die ganze materielle Welt, alles was wir heute von den Erscheinungen der Himmelsräume, von den Nebelsternen bis zur Geographie der Moose auf dem Granitfelsen wissen, alles in Einem Werk darzustellen, und in einem Werk, das zugleich in lebendiger Sprache anregt und das Gemüth ergötzt. Jede große und wichtige Idee, die irgendwo aufglimmt, muß neben den Tatsachen hier verzeichnet sein."

Ebenfalls im Großformat erscheinen in einer Übersetzung aus dem Französischen, der Sprache der Gebildeten zu Humboldts Lebzeiten, die Ansichten der Kordilleren und Monumente der eingeborenen Völker Amerikas. Ergänzt wird das Unternehmen durch die Ansichten der Natur, die 1808 erstmals erschienen und eine gute Einführung in das enorme Projekt des Humboldtschen Weltaneignung bilden.

Während sein Bruder sich als Bildungspolitiker in Berlin verdient machte, war Alexander zwischen 1799 und 1804 in Amerika unterwegs, auf einer Reise, wie sie ähnlich auch Darwin unternahm, der jedoch Belegmaterial für eine spezielle Theorie suchte, während für Humboldt das Material selbst die Theorie war. Wer soll das alles lesen? Dass die moderne Wissensgesellschaft immer stärker auch Zeitmanagement erfordert, wissen die Herausgeber. Aber sie kümmern sich nicht darum, denn am Ende ist das doch vor allem ein bibliophiles Projekt, anachronistisch in jenem positiven Sinn, der auch Bestenlisten widersteht. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 16. 9. 2004)