Brigitte Voykowitsch Bhutan verleitet zur Langsamkeit und fordert die Stille zurück, die es ausstrahlt. Diese Stille kehrt unvermittelt ein, sobald die kleine Maschine der Druk Airways auf der kurzen Landebahn des einzigen Flugfeldes zum Stillstand gekommen ist und ihre Motoren abgestellt hat. Hier in Paro werden nun wieder Stunden vergehen, bis der nächste Flug eintrifft. Bis dahin gibt es keine Lärmquelle. Das winzige Flughafengebäude hat alle essentiellen Einrichtungen, um es zu einem solchen zu machen. Aber es ist, wie gesagt, winzig. Hochtechnologie und Hektik sind jenseits der Berge geblieben, über die Druk in einer in Augenblicken abenteuerlich anmutenden Flugbahn die Fremden hergebracht hat. Nichts verstellt in Paro den Blick auf diese Berge. Bei klarem Wetter ist am westlichen Ende des Tals der Chomolhari mit seinen mehr als 7000m auszumachen. 21 Gipfel im bhutanischen Teil des Himalaya ragen über die 7000m-Marke hinaus. Die Hauptstadt Thimphu liegt nur 45 km von Paro entfernt. Doch Kilometer lassen sich in Bhutan, dem letzten unabhängigen buddhistischen Königreich im Himalaya, nicht so wie bei uns in Fahrtzeiten umrechnen. Die Straße ist kurvenreich, schlängelt sich an Hängen entlang. Kommt ein Lastwagen entgegen, ist einmal Abbremsen auf Schrittgeschwindigkeit angesagt und dann geschicktes Manövrieren. Aber die Bhutaner haben es so und so nicht eilig. Alle, die knapp unter 40 oder darüber sind, wurden noch in die Zeit hinein geboren, da es keine einzige befestigte Straße in Bhutan gab. Noch in den 50er Jahren war das Land von der Größe der Schweiz fast hermetisch abgeschlossen. Der Außen_welt hat es sich erst unter dem Eindruck der Ereignisse in Tibet geöffnet. Dann wurde Anfang der 60er Jahre auch mit dem Straßenbau begonnen. Nun kommt man im Schnitt mit 40 bis 50kmh voran. Gemächlich nähern wir uns Thimphu mit seinen rund 15.000 Einwohnern. Kein Hilton oder Holiday Inn steht da. Die Häuser sind fast durchwegs niedrig und traditionell. Auch im Hotel umgibt uns wieder die Stille. Kein Radio läuft da, nur aus dem Speisesaal dringt das Reden, fast möchte ich sagen Flüstern von Personal. Auch draußen auf der Straße ist es ruhig. Der Polizist, der an der Kreuzung mit kunstvoll fließenden, dann wieder zackigen Armbewegungen den Verkehr regelt – noch gibt es keine Ampel in Thimphu –, ist sichtlich nicht voll gefordert. Immer wieder ist Pause, es kommt einfach kein Gefährt daher, des Polizisten Arme sinken mangels Regelungsbedarfs ab. Schnell – was hier nicht heißt, im Schnellschritt, nur einfach in Kürze, Thimphu ist so klein – sind Reisende wieder draußen aus der Stadt, in einer über weite Strecken unverdorbenen Natur. Derentwegen kommen sie ja, wie auch wegen der buddhistischen Tempel, Klöster, Klosterburgen und Feste. So viele Klöster und Mönche wie in Bhutan gibt es – auf die Bevölkerung umgelegt – kaum wo auf der Welt. Die kleineren und die Einsiedeleien sind nur zu Fuß zu erreichen, zuweilen ist ein mehrstündiger steiler Anstieg erforderlich. Manche sitzen hoch oben auf Felsvorsprüngen, andere liegen versteckt in kleinen Tälern,wieder andere ganz am Ende eines Dorfes, das sich an einen Abhang klammert. Wie der Tempel von Rinchengang. Zufällig haben wir ihn entdeckt. Der Reiseführer erwähnt ihn nicht, hat schon gar kein Bild davon wie von den großen Klosterburgen, den Dzongs, wie sie genannt werden. Paro, Punakha, Tongsa, die sind abgebildet, quasi als Muß-Stationen einer Reise durch Bhutan. Der Tempel liegt am höchsten Punkt von Rinchengang. Über eine steile Holztreppe klettern wir in den ersten Stock. Der Wind pfeift durch die Ritzen. Ansonsten ist zunächst kein Geräusch vernehmbar. Dann werden wir eines Murmelns gewahr. In einem Raum sagt ein alter Mönch, vor einem winzigen Tischchen mit heiligen Texten sitzend, seine Gebete vor sich hin. Ein anderer, ebenso hohen und undefinierbaren Alters, bastelt neue Gebetsfahnen. Stundenlang verharren sie so. Auch für die Reisenden lohnt es, zu verweilen und einfach zu beobachten. Durchrennen, absolvieren, abhaken, das paßt hier noch viel weniger als anderswo. Auch dort, wo eine Straße hinführt, gibt es oft noch den älteren Fußweg über Berg und Tal. Es lohnt zu gehen. Das reduzierte Tempo ist zugleich symbolisch für die Einstellung der Regierung zu Fortschritt und Entwicklung. Vieles hat sich seit der Öffnung in Bhutan verändert. Doch in dem Land, wo noch vor wenigen Jahrzehnten alles im Schritt-Tempo ablief, soll auch in der Modernisierung ein vorsichtiger Schritt nach dem anderen gesetzt werden. Noch hat niemand Fernsehen, statt einer Medienlandschaft gibt es ein einziges Blatt. Bhutan hat es nicht eilig. Denn groß ist die Sorge, daß ein zu hastiger Schritt eine Zerstörung der alten, vom Buddhismus durchdrungenen Kultur einleitet, die dann nicht mehr zu bremsen ist. Also sind Fremde willkommen, aber zu einem Preis von 200 US-Dollar pro Tag. Das verringert automatisch die Zahl der Touristinnen und Touristen. Die, die kommen, dürfen auch nicht wahllos auf alle Berggipfel hinauf. Einige sind zugänglich, andere gesperrt. Denn auf den Bergen wohnen die Götter. Und in Bhutan geht der Respekt vor dem Glauben der Menschen vor. • © 1997 DER STANDARD Automatically processed by COMLAB NewsMaker