Standard: Ist es heute wichtiger als früher, individuell zu sein?

Bader: Wir leben in einer Zeit des zunehmenden Individualismus. Das Bedürfnis nach Gemeinschaft wird aber nicht durch irgendwelche Zeittendenzen außer Kraft gesetzt.

Standard: Äußert sich das auch in Abgrenzung?

Bader: Abgrenzung von etablierten Werten ist eher ein psychologisches Problem. Diese Tendenz wird noch durch einen entsprechenden Zeitgeist verstärkt. Das führt zu der manchmal zitierten No-Future-Einstellung, zu Verlust der Perspektiven, die im Kollektiv kolportiert werden.

Standard: Gibt es noch ein Gemeinschaftsgefühl, wenn sich jeder abgrenzen möchte?

Bader: Ja. Auf Individualismus kann man keine Gemeinschaft aufbauen, weil dazu Solidarität notwendig wäre, und letztlich entstünde so auch keine funktionierende Gesellschaft. Individualismus allein befriedigt den Menschen nicht.

Standard: Warum wollen Jugendliche oft durch Äußerlichkeiten auffallen?

Bader: Dadurch grenzt man sich gegenüber dem etablierten Bild ab, aber es entspricht sehr wohl einer Normativität. Das ist eher ein Pseudoindividualismus. Es sind bestimmte Symbole, die dabei bewusst verwendet werden, um sich abzugrenzen, aber auch um in einer Gemeinschaft aufgehoben zu sein. Individuum bedeutet – sprachlich abgeleitet – das Unteilbare. Selbstbezogenheit und Gemeinschaftssinn sind aufeinander angewiesen innerhalb der Psyche des Individuums.

Standard: Steckt das Unteilbare noch im Individualismus?

Bader: Zumindest der Begriff Individuum ist anders zu beurteilen. Der Individualismus verzerrt – wie jeder Ismus – den Begriff Individuum.

Standard: Ist es wünschenswert, dass sich der gängige Individualismus in dieser Form weiterentwickelt?

Bader: Die Individualisierung ist eine positive Entwicklung, wenn man sie richtig betrachtet. Sie geht in Richtung Entfaltungsmöglichkeiten individueller Perspektiven, Wünsche und Talente. Doch ist manches, was sich an diesem Alternativen durchsetzt, Ausdruck kollektiver Abflachung.

(DER STANDARD-Printausgabe, 12.10.2004)