Von Alkohol und Drogen also in den Lebenserinnerungen keine Spur, dafür drastische Bilder für diese Zeit. Der Meister beschreibt die 80er-Jahre als "Zeit der Depression". Eine Zeit, in der nichts gelingen wollte. Unser Mann mühte sich schwer be- und geladen durch die Welt(tourneen):
"Ich konnte mit meinen Songs nichts mehr anfangen. Sie fühlten sich wie ein Batzen stinkendes, faulendes Fleisch an, den ich mit mir herumzuschleppen hatte. Ich konnte mich nicht daran erinnern, wo sie hergekommen waren. Ich hatte Zustände. Wie sehr ich mich auch bemühte, der Motor wollte nicht wieder anspringen."
Seinen jetzt auf Englisch erschienenen ersten von drei geplanten Memoirenbänden nennt Bob Dylan doppeldeutig Chronicles. Damit sorgt der wohl in der Popgeschichte meistgedeutete Songwriter einmal mehr genüsslich für ein hausgemachtes Missverständnis. An dem werden sich seine Exegeten mit heiligem Ernst das Gehirn wund arbeiten: "These memories I got, they can strangle a man." (Honest With Me, 2001)
Zum einen handelt es sich hier eben nicht um eine chronologische Nachbetrachtung seines Lebens, sondern um Schnappschüsse in die Vergangenheit: "Memory, ecstasy, tyranny, hypocrisy." (No Time To Think, 1978)
Zum anderen verweist Dylan selbst mit der zweiten, biblischen Bedeutung der Chronicles als "Buch der Bücher" zynisch auf die absehbare Rezeptionsgeschichte.
Falsche Fährten
Immerhin legte Robert Zimmermann schon am Beginn seiner Karriere Anfang 1961 in seinem allerersten Interview falsche Fährten. Der junge Mann gab rotzfrech an, als in den ganzen USA herumstreunender Hobo auf einem Güterzug nach New York gekommen zu sein: "Train wheels runnin' through the back of my memory." (When I Paint My Masterpiece, 1971)
Wie er jetzt in den Chronicles – genüsslich ein weiteres Klischee demontierend und gleichzeitig unbeirrt wie je mit literarischem Kalkül an seiner eigenen Geschichtswerdung als Kunstfigur arbeitend – darlegt, sei er in Wirklichkeit per Fahrgemeinschaft daheim von Mutti in Hibbing, Minnesota, angereist. Auf einer elendslangweiligen Autofahrt auf dem Rücksitz dösend, um in New York persönliche Helden wie den todkranken Woody Guthrie aufzustöbern.
Von Guthrie holte sich Dylan schließlich den Sanktus. Aus der Anthology of American Folk Music von Harry Smith holte er sich anfangs die Songs. Und ein paar Jahre später fühlt sich der längst selbst Jahrhundertstücke komponierende Dylan, der in Newport auch schon zum elektrischen Gottseibeiuns der Folkszene geworden war, als "Stimme seiner Zeit" bereits von idiotischen Beatniks, Bürgerrechtlern und Hippies verfolgt. Wo er doch am liebsten bloß im Garten gesessen und seinen Kindern und Rosen beim Wachsen zugesehen hätte: "Some of these memories you can learn to live with and some of them you can't." (Sugar Baby, 2001)
Zwischen den Zeiten wild hin- und herspringend erfährt man neben intensiven und nahe gehenden Schilderungen dieser für Dylan traumatischen Zeit vor allem eines: wenig. Viel Namedropping für die treue Fangemeinde ist zu verzeichnen (Essen mit Johnny Cash, Essen mit Bono Vox...). Man liest, warum Dylan dann Clausewitz' Vom Kriege schon, aber Sigmund Freuds ("The King of the sub^conscious!") Jenseits des Lustprinzips doch nicht studiert hat: "Ray kam in den Raum, sah das Buch und meinte: ,Die Spitzenleute dieser Branche arbeiten alle in der Werbung.‘"
Wir erfahren, warum Roy Orbison wie ein Krimineller singt und was einen guten Folksong ausmacht. Von den eigentlich im Fanlager erhofften, pardon, Weibergeschichten erfährt man aber auch einstweilen weiter nichts. Stichwort: Joan Baez.