Der vorliegende Artikel stammt aus dem im Rahmen der Viennale'04 (22.10., 18:00, Festivalzentrum Urania) präsentierten Sonderheft 2/2004 der Zeitschrift kolik.film. Kopie mit freundlicher Genehmigung.

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(Entsprechendes Update in Kürze)

Grafik: Kolik

"Les gens d'Angkor"

Stadtkino
20.10., 13:00
24.10., 18:00

Foto: Viennale

"S21, la machine de mort Khmère rouge"

Foto: Stadtkino

Dass heuer im Herbst gleich zwei Filme Rithy Panhs in Wien zu sehen sind – nämlich S21, la machine de mort Khmère rouge (2002) und Les gens d'Angkor (2004)[Anm.1] – ist ein Glücksfall. Denn obwohl die Filme des gebürtigen Kambodschaners, der seit seiner Flucht aus den Lagern der Roten Khmer 1979 in Paris lebt und arbeitet, immer wieder auf Festivals und in Filmreihen ihre Nische finden, waren sie im regulären Kinobetrieb bislang nicht vertreten. Neben Festivals (die zur Verbreitung unabdingbar sind) ist heutzutage das Fernsehen (in Panhs Fall der französische Arm des Kultursenders ARTE) das Medium, in dem ein "regionales", an den Ränder der Industriegesellschaft orientiertes Dokumentarfilmschaffen am ehesten noch einen "Slot" finden kann. So auch Panhs Filme, die dann in Themenabenden über das ehemalige Indochina auftauchen.

Dass sie trotz dieser globalen Orientierung ihren lokalen Charakter nicht kompromittieren, verdankt sich der formalen Reflektiertheit und erzählerischen Offenheit, mit welcher der Filmemacher jede seiner "Mikroerzählungen" mit der spezifischen Geschichte eines Volkes (der problematischen Nationswerdung Kambodschas) wie auch einem Begriff universaler Menschenrechte in Verbindung zu setzen vermag. Dabei gehen Panhs Dokumentarfilme formal weitaus kompromissloser und strenger vor als seine Spielfilme. Letztere sind – was ihren künstlerischen Wert nicht schmälert – vor allem als psychologisch aufgeladene Variationen der dokumentarischen Topoi interessant. Wo Erstere auf einen Kommentar verzichten, Interviews auf ein Minimum beschränken und den Zuschauer zum Zeugen eines höchst ambivalenten Bewusstseinsprozesses machen, kleiden die Spielfilme die Themen des Regisseurs – Krieg, Traumata und Verdrängung, Vernichtung nationaler Identität, Armut und die Kluft zwischen Erster und Dritter Welt – in melodramatische Fabeln. So beginnt beispielsweise Un soir après la guerre (1997), Rithy Panhs zweiter großer Spielfilm, mit einer Helikopterfahrt über einen fahrenden Zug. Die Kamera senkt sich auf einen offenen Waggon voller zerlumpter Menschen herab, der noch vor der Lokomotive die Spitze des Zuges bildet. Die Erhabenheit der Perspektive, das satte Grün der Reisfelder stehen in Diskrepanz zur Feststellung, dass die Vorhut hier leicht den Tod bedeuten kann: Der Transport auf den Todeswagen genannten Plattformen ist gratis, da diese jederzeit auf eine der Millionen Landminen auffahren können.

Was den Spielfilm als Metapher eröffnet und sein Ende (den gewaltsamen Tod des Protagonisten auf der Flucht) vorwegnimmt, kehrt in La terre des âmes errantes (1999) als sarkastische Pointe wieder. Der Dokumentarfilm folgt einer Gruppe ehemaliger Bauern, die ihre zerstörte, fruchtlose Erde zugunsten eines nomadischen Tagelöhnerseins aufgegeben haben und im Auftrag des Alcatel-Konzerns Glasfaserkabel quer durchs Land verlegen. Die Kritik der Verhältnisse, die La terre des âmes errantes übt, hebt sich ganz deutlich vom Gros polemischer "Globalisierungskritik" ab. Sie äußert sich in einer Montage, die Argumente, Positionen und Biografien nicht zu Stehsätzen, Handlungsanweisungen und Eindeutigkeiten zuspitzt, sondern vieldeutige Indizien für die Widersprüchlichkeit (oder Obszönität) der kambodschanischen Gegenwart liefert. Die Begriffe und die Bilder, die Rithy Panh in der Arbeit mit seinen Protagonisten verwendet, sind dabei oft ganz elementar: die Erde, beispielsweise. Sie wird in La terre des âmes errantes wiederholt umgegraben – anfangs von jenen Reisbauern, die ihr keine Erträge mehr entreißen können und mit den bloßen Fingern hilflos im Staub wühlen; dann von den Hacken der Arbeiter, die entlang einer Staubpiste am Informationshighway mitbuddeln. Zuletzt birgt die Erde – hier kommt der Todeszug ins Spiel – prekäre Geheimnisse: Jede Grabung fördert Landminen (wie auch das Glasfaserkabel ein Produkt westeuropäischer Spitzentechnologie) und die Knochen der Toten zutage, die zwei Bürgerkriege und das Pol-Pot-Regime hinterlassen haben.

Die "wandernden Seelen" des Titels sind sowohl die Geister derer, die nicht anständig begraben wurden, als auch jenes "Volk", das seit nun mehr als 30 Jahren zu Wanderschaft, Exil und Flucht gezwungen wird. Die Form, in der sich das Kino Panhs der Armen Kambodschas – der Landbevölkerung, der die Lebensgrundlage fehlt, der Folteropfer, deren Martyrium staatlich nicht anerkannt wird – annimmt, verweist sowohl auf westlich-demokratische (das "Social Documentary" der Briten) als auch auf südostasiatische, der Khmer-Kultur und dem Theravâda-Buddhismus entsprungene Traditionen. Ihre Synthese macht die Faszination von Rithy Panhs Filmen aus; mit der Zeit und in der Auseinandersetzung mit seinem Gesamtwerk treten dabei die Gemeinsamkeiten stärker hervor als die Unterschiede zwischen den Filmen.

Denn gerade diese Unterschiede könnten auf den ersten Blick zwischen den zwei jüngsten Dokumentarfilmen Rithy Panhs nicht größer sein: S21, la machine de mort Khmère rouge, Panhs viel beachtete Aufarbeitung des Terrorregimes der Roten Khmer, ist ein nüchterner, distanzierter Film über systematische Unterdrückung und dehumanisiertes Sterben im Todeslager Tuol Sleng; Les gens d'Angkor erzählt hingegen überwiegend religiöse Episoden aus und über Angkor, jener Ruinenstadt des Khmerreiches, die sich erst in den letzten Jahren vom weißen Flecken zum "Must-See" des Ferntourismus gemausert hat.[Anm.2] Hat man S21 gesehen – meiner Meinung nach mit Claude Lanzmanns Sobibor, 14 octobre 1943, 16 heures (2001) die filmisch stärkste und erschütterndste zeitgenössische Auseinandersetzung mit dem organisierten Töten und dem Widerstand dagegen –, erwischt einen Les gens d'Angkor am falschen Fuß. Gegen die kahlen Zweckbauten des Tötungscamps Tuol Sleng nehmen sich die Ruinen Angkor Wats noch atemberaubender aus, als sie wahrscheinlich sind; sprechen die Protagonisten von S21 – Opfer und Täter der "Todesmaschine" der Roten Khmer – über ein höchst tabuisiertes Thema der jüngeren Geschichte, so verblüfft Les gens durch seine kulturelle Geschlossenheit. Denn bis auf wenige Ausnahmen handeln die Gespräche der "Menschen von Angkor" von Figuren und Episoden aus den hinduistisch-buddhistischen Schöpfungsmythen und dem Khmerreich des 9. bis 15. Jahrhunderts.

Was die Filme verbindet, ist ihre formale Gestaltung, eine filmische Haltung, die der Regisseur zur Wirklichkeit und seinen Protagonisten einnimmt. Beide Filme führen eine Gruppe Menschen (deren Vorgeschichte wir nicht kennen) an einem Ort zusammen, der dann zur "Bühne" einer Serie von Begegnungen wird. Panhs Verfahren wird hier in hohem Maße theatralisch – er montiert nie parallel, sondern lässt Menschen auftreten; sie beginnen zu sprechen, arbeiten sich durch ein Thema, einen Gedanken, eine Kette von Argumenten durch, um dann die Sequenz (oder räumlich gedacht, die Szene) wieder zu verlassen. Interviews gibt es keine, darin unterscheidet sich Panh ganz deutlich von z.B. Lanzmann und Ophüls; in der Tradition des Direct Cinema lässt er seine Protagonisten weniger Auskunft geben, als vielmehr auf Milieu und Situation reagieren. Dass das Potenzial an Erkenntniswert solcher Situationen nichts mit der "Authentizität" (oder scheinbaren "Natürlichkeit") einer Situation zu tun hat, verdeutlicht S21 eindrucksvoll: Panh und sein diegetischer Stellvertreter, der Maler und Lagerüberlebende Vann Nath lassen die ehemaligen Wärter des Lagers (dessen Insassen bis auf eine Hand voll Männer und Frauen alle von den Roten Khmer getötet wurden) buchstäblich ihre alten Rollen nachspielen: Ein gespenstisches Schauspiel ist die Folge, in der Körpersprache, Gestik, die ganze Mechanik der Wiederholung unglaublich präzise zu vergegenwärtigen vermögen, was sonst in halbherzigen Geständnissen oder wehleidiger Beichte von den Tätern geleugnet wird.

Als einen "Vermesser der Erinnerungen" und "Archäologen" bezeichnet Rithy Panh sich selbst im Gespräch mit den Cahiers du Cinéma, denn im Vergessen läge die größte Bedrohung der kambodschanischen Gesellschaft. Panh: "Eine ihrer Funktionen [der Maschinerie der Roten Khmer] bestand nämlich darin, das Gedächtnis zu leeren. Je weiter ich vorankam, desto mehr gewann ich die Gewissheit: Um ein ganzes Volk einer einzigen Ideologie zu unterwerfen, um jeglichen Widerstand, jeglichen individuellen Gedanken, jeglichen Anspruch auf Freiheit auszuschalten, bedarf es der Abschaffung des Gedächtnisses."[Anm.3] Der rabiate Antiintellektualismus und Antiurbanismus der kommunistischen Roten Khmer, ihre systematische Zerstörung jeglichen kulturellen Lebens, der Religion, der Bildung (gleichsam der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft Kambodschas)[Anm.4] bilden den Hintergrund von Panhs Erinnerungsarbeit. Dass in dieser die Baracken Tuol Slengs den gleichen Stellenwert wie die Tempelstatuen Angkors einnehmen, klingt paradox, wird aber in den Filmen selbst plausibel. Beide sind bedeutsame Plätze, Orte, an denen die Geschichte Spuren hinterlassen hat: Artefakte in Stein in Angkor (die Apsara genannten himmlischen Tänzerinnen, die Reliefs mit Szenen aus dem Mahabharata und Ramayana) und in Papierform in Tuol Sleng (die überbordenden Fotoarchive und Folterprotokolle der Roten Khmer) – ein ungeordneter Haufen Bilder, aus denen im Lauf eines Films von den Protagonisten im Dialog wieder Geschichten (Laufbilder) "gebaut" werden.

In diesem Sinne betreiben sowohl S21 als auch Les gens ganz grundsätzlich Lektürearbeit. Das einzelne Bild – seien es die Malereien Vann Naths in S21 oder die szenischen Fragmente aus dem alten Khmerreich in Les gens – wird zum Ausgangspunkt einer verbalen Neuschöpfung der Welt. Jene Sequenzen, in denen die Bauarbeiter beim Putzen von Steinblöcken beginnen, Geschichten zu rezitieren, indem sie Bruchstücke der Tempelreliefs in eine minutenlange, komplexe Narration überführen, gehören zu den faszinierendsten Momenten im jüngsten Film. Sie demonstrieren, wie kulturelle Identität sich trotz Zerstörung der Schriftkultur oral überliefert, und inszenieren ihre Protagonisten als gestaltende Kraft dieses Prozesses: Im Fabulieren entstehen Zusammenhänge, entsteht Bewusstsein, dabei werden Parallelen zwischen mythischer Überlieferung und den eigenen Lebensbedingungen manifest. Panh ist ein Dialektiker – ein und dieselbe Szene eines Reliefs produziert zwei unterschiedliche Schlussfolgerungen; die Synthese daraus, die Ableitung einer Erkenntnis oder "Handlungsanweisung", obliegt dem Publikum – also sowohl den Zuhörern im Film als auch den Betrachtern des Films. "Angkor" wird in Panhs Film zur Ausgrabungsstätte unzähliger möglicher Deutungen der Welt; darin spiegelt Les gens auch narrativ jene Tradition der frühen buddhistischen Kunst wider, in der die einzelne kompositorisch geschlossene szenische Darstellung (beispielsweise auf einem Relief) gleich einem Hypertext auf einen ganzen Kosmos virtueller Anschlüsse verweist.[Anm.5] Es liegt in der Kunst des Erzählers (und darin liegt die Bedeutung, die Panhs Filme auf das Moment der Tradition und der Lehre legen), diese verdichteten Zeugnisse der Vergangenheit (sowohl Angkors als auch Tuol Slengs) zu entschlüsseln, zu vermitteln, in den Alttag der Protagonisten zu übersetzen. Denn dieser ist – darüber kann auch die beeindruckende Schönheit Angkor Wats nicht hinwegtäuschen – hart. So sind die Fragen, vor denen die Menschen in Rithy Panhs Filmen stehen, auch immer ganz praktisch: Wie kommt man zu seiner Hand voll Reis? Wie kann man sein Geld verdienen, in Würde leben? Oder aus den Trümmern eines Landes wieder eine Nation machen? Das Kino Rithy Panhs weiß darauf keine Antworten zu geben, doch es zeigt, wie wichtig es ist, die richtigen Fragen zu stellen. ( Kolik.film Sonderheft 2/2004 )