Foto: Süddeutsche Bibliothek
Dieser "Roman" ist viele Bücher: die unglückliche Liebesgeschichte Arthur Daanes, Niederländer in Berlin, Fotograf, Kameramann, Dokumentarfilmer, zu einer störrischen jungen Frau; ein scharfsichtiger Essay über die deutsche Hauptstadt; eine Kette von Reflexionen über das spurlose Verschwinden von Erinnerungen und die Macht der Kunst, diesem Verschwinden Einhalt zu gebieten; ein "roman à clef", in dem die Freunde von Daane unschwer als liebevolle Porträts von Rüdiger Safranski und dem Niederländer Armando zu erkennen sind.

Schließlich ist dieser Roman auch das "Selbstporträt eines anderen". Arthur Daane ist kein Dichter, aber ein von ,letzten Fragen' heimgesuchter Künstler. Daanes Fotografien und Filme - wie Nootebooms Texte - streben das Bewahren von Menschen, Gefühlen, Dingen an, "die für niemanden bewahrt zu werden brauchen, weil sie im Grunde vorhanden waren". Doch bannen sie mit ihrer Kunst "einen Augenblick in der wirklichen Zeit, anonym und doch bestimmt".

Siegfried Unseld hatte es sich bei Erscheinen von Allerseelen nicht nehmen lassen, in einem Brief den Roman zu preisen: "Ich erinnerte mich", schrieb er, "bei der Lektüre an die großen Flaneure unseres Jahrhunderts, die Orientierung, Klugheit und Unterhaltung boten: Egon Friedell, Franz Hessel, Arthur Elösser, Walter Benjamin."

Unseld hatte Recht: Sie alle könnten Pate sein für dieses aufregend heutige Buch. Auch Daane ist ein Flaneur. Er streift durch das winterliche Berlin der Jahre 1990/91 und sieht durch das Prisma dieser Stadt die Geschichte Deutschlands.

Berlin ist zugefroren. Immerfort fällt Schnee, der unter seinen Massen Schicksale im Sirenengeheul der Unfallwagen begräbt. Ein Sog entsteht durch die unerfüllte Liebe Daanes zu einer jungen Niederländerin. Sie hat "einen Berberkopf", trägt den Namen Elik Oranje und schreibt eine Doktorarbeit über eine spanische Königin. Daane ist in sie vernarrt, wird aber nicht glücklich, weil sie eine "Weltmeisterin im Abschiednehmen" ist und "aus Misstrauen eine Kunstform gemacht hat". Als er ihr nach Madrid folgt, wird er von Skinheads überfallen und erwacht erst nach Wochen aus dem Koma, "aus dem Gefrierschrank des Todes". Er hat eine Katharsis erlebt. Das Leben voller Neugier und Begehrlichkeit bleibt unerforschlich und verschließt sich in sich selbst.

Allerseelen ist Nootebooms persönlichstes Buch, das über seinen Glauben an die Kunst, über die Ängste und Freuden des Lebens Gültiges zu sagen weiß. Wer auf der Suche ist nach einer großartigen Metapher für die Rätselhaftigkeit aller individuellen Leben, der muss diesen Roman lesen. Er ist nicht harmlos. Doch halten die Nooteboomsche Weisheit und kluge Ironie bei allem Elegischen einen Trost bereit: dass die äußere Wirklichkeit durch die Einbildungskraft überwältigt werden kann. (DER STANDARD, Printausgabe, 30./31.10./1.11.2004)