Henri Cartier-Bresson: Boulevard Diderot (1969, Ausschnitt)

Foto: Wien Museum / Copyright: Henri Cartier-Bresson / Magnum Photos

Henri Cartier-Bresson, Altmeister der modernen Fotografie, wirft poetische Blicke auf den Pariser Alltag. Das Wien Museum Karlsplatz zeigt im "Monat der Fotografie" rund 130 Bilder des erst kürzlich verstorbenen Fotografen, den ein Sprung in die Pfütze berühmt gemacht hat.

Wien – Einen Wimpernschlag, bevor der Mann in einer Pfütze landet, hat der damals 24-jährige Henri Cartier-Bresson den Auslöser betätigt; das 1932 entstandene Bild des Wasserläufers am Gare Saint-Lazare wurde zu einer Ikone der Reportagefotografie.

Henri Cartier-Bresson, der am 22. August 2004 im Alter von 95 Jahren verstorben ist, war Begründer der modernen Fotografie und des internationalen Bildjournalismus. Er hat mit seinen zahlreichen Paris-Aufnahmen das Image der Seine-Metropole entscheidend geprägt.

Das Wien Museum Karlsplatz zeigt unter dem Titel Henri Cartier-Bresson: Die Essenz von Paris ab 5. November 2004 im Rahmen des "Europäischen Monats der Fotografie" rund 130 Fotografien des Altmeisters, die er selbst gemeinsam mit Jean-Luc Monterosso (Maison Européenne de la Photographie, Paris) und Daniel Arnault (Magnum) zwischen 1980 und 1984 für eine Paris-Dokumentation zusammengestellt hat.

Es ist eine Auswahl aus rund 2000 Aufnahmen von Paris. "Diese Ausstellung", so Direktor Wolfgang Kos, "steht für das Prinzip des Wien Museums, sich auch für andere Großstädte zu interessieren." Der Fotokünstler suchte in all seinen Aufnahmen jenen "entscheidenden Augenblick", der die Essenz einer Situation in sich trägt. Die gezeigten Fotos sind in den Jahren 1929 bis 1975 entstanden.

Der Fotograf studierte 1927 bis 1929 in Paris Malerei, kaufte sich mit 23 Jahren seine erste Leica und ging für kurze Zeit als Großwildjäger nach Afrika.

Aneignung der Welt

Die Welt und seine Leica ließen ihn nicht mehr los. Er reiste an die Orte politischer Umwälzungen, in den Fernen Osten, nach China, nach Russland und Indien. Seine Bilder wurden zu Zeitdokumenten.

1933 fanden in Madrid und New York erste Ausstellungen seiner Arbeiten statt. 1937 drehte er seinen ersten eigenen Dokumentarfilm La victoire de la vie, über Krankenhäuser im spanischen Bürgerkrieg.

1947 gründete er gemeinsam mit Robert Capa, Georges Roger und David Seymour die legendäre Agentur Magnum, die die besten Fotoreporter der Welt vereinte. Der Fotojournalismus wurde schlagartig zum wichtigsten Instrument der Reportage. Für internationale Magazine wie Life, Stern oder Vogue reiste er zwei Jahrzehnte durch die Welt – immer auf der Suche nach dem geeigneten Augenblick, nach dem Blick "dahinter". Das Aufdecken von Gedanken und Gefühlen, von Träumen und Wünschen der Menschen wurde zur Triebfeder seines künstlerischen Schaffens. 1966 zog er sich aus dem Fotojournalismus zurück und widmete seine Aufmerksamkeit wieder ganz seinen Anfängen, der Malerei. Denn, so Cartier-Bresson: "Die Fotografie ist ein Messerstich, die Malerei eine Meditation."

Er war ein Poet des Augenblicks, er lässt durch seine Momentaufnahmen eine Wirklichkeit zu, die sich tief in der Bilderinnerung des Betrachters festsetzt. Ein Tierzirkus am Boulevard Richard Lenoir (1952), ein Liebespaar im Caféhaus am Boulevard Diderot (1969), zwei Frauen, die sich inmitten eines Stapels von Obstkisten in den Markthallen ausruhen und plaudern (1968) oder ein schlafender Clochard am Seine-Ufer in enger Umarmung mit seinem Hund (1956) Viele dieser Fotografien sind zu Ikonen der Fotografie geworden. Die Momentaufnahmen von Alltäglichem werden zu etwas Besonderem, denn sie spiegeln bei Cartier-Bresson nicht bloß die Wirklichkeit wider, sondern zeigen Atmosphäre. "Man sieht, man fühlt, und das überraschte Auge handelt."
(DER STANDARD, Print-Ausgabe, 4.11.2004)