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Claudio Abbado, der erfahrene Mahler-Dirigent, versöhnt Intensität und Klarheit.

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Jetzt, da das Festival "Wien modern" durch die Donaustadt rauscht, köchelt das Gefühl eines speziellen Verlustes noch viel stärker hoch als sonst. Seit Jahren macht Dirigent Claudio Abbado, der Miterfinder dieses Festivals, einen Bogen um die Moderneveranstaltung. Diese Absenz darf allerdings leider auch als Symbol für alles herhalten, was mit Abbado und Wien zusammenhängt. Zwar hat er ironischerweise sein letztes Konzert als Chef der Berliner Philharmoniker in Wien absolviert, das ihn im Musikverein in ein Meer aus Rosen tauchte. Aber die erkaltete Beziehung zu den Wiener Philharmonikern, sein Appetit auf immer neue Projekte und seine bittere Erfahrung mit einer lebensbedrohlichen Krankheit - dies alles hat Abbado dazu bewogen, nur noch das zu tun, was ihm wichtig ist. Und weil in Wien offenbar nichts Wichtiges mehr möglich ist, macht er einen Bogen um jene Stadt, der er auch als Musikchef der Wiener Staatsoper seinen Stempel aufgedrückt hat.

Luzern mit seinem orchesterdominierten Festival hat da mehr Glück. Dort ist Abbado gerne zugegen, hat zusammen mit Festivaleiter Michael Haefliger das "Lucerne Festival Orchestra" aus der Taufe gehoben, das sich hauptsächlich aus Mitgliedern des Mahler Chamber Orchestra zusammensetzt und auch bekannte Namen wie das Hagen Quartett, Klarinettistin Sabine Meyer und Cellistin Natalia Gutman in sich vereint und 2003 unter idealen Arbeitsbedingungen agieren konnte. Abbado: "Sie waren bereit, jede Verrücktheit zu machen, zu der ich sie veranlasst habe. Zu fliegen, durchs Feuer zu gehen".

Bei der Deutschen Grammophon ist nun das Konzertergebnis der damaligen Zeit erschienen - nicht unpassend für Abbado, den Hier-und-jetzt-Künstler, den Echtzeitdirigenten, der es versteht, den musikalischen Live-Augenblick mit spannungsvoller Bedeutung und Dringlichkeit aufzuladen. Dem Ideal einer großorchestralen Kammermusik verpflichtet, lässt Abbado Claude Debussys "La Mer" farbenreich auferstehen; die kleinsten Bebungen, die großen Aufbrüche zu expressiven Bereichen - all dies verschmilzt zu einem spannenden symphonischen Bilderbogen. Beispielhaft der dritte Teil, bei dem grimmige Attacke verwoben wird mit flehender Poesie, die immer wieder im Sinne der Detailtransparenz aufflackert. Grandios.

Bei Gustav Mahlers "Auferstehungssymphonie", der Zweiten, drückt Abbado aufs Tempo, lässt von Beginn an Klarheit und Straffheit regieren und erzeugt einen gläsernen, schlanken Sound. Die Wucht hat denn auch nichts Vordergründiges, die Kantilene nichts Schwülstiges. Es herrscht abgeklärt-kontrolliertes Schwärmen, strenges Strukturbewusstsein. Impulsiv bleibt das Ganze dennoch; die Aufgeladenheit und Energie des Ganzen zeugt von der arbeitstechnischen Emphase und Konzentration, die da geherrscht haben müssen. Dieser Mahler ist ein Musterbeispiel für eine undogmatische Musizierhaltung, die sich nichts mehr beweisen muss und jederzeit den Überblick wahrt.

Wer es bei Gustav Mahler etwas üppiger und breiter schätzt, der ist bei Dirigent Riccardo Chailly und dem Concertgebouw Orchestra gut aufgehoben. Deren Version von Mahlers 9. Symphonie (Universal) ist tragisch-romantisch angelegt, sie jauchzt, die Linien singen ausgiebig. Für den ersten Satz braucht Chailly um die viereinhalb Minuten länger als Abbado mit dem Berliner Philharmonikern (eine Deutsche. Grammophon-Aufnahme aus 2002). Und logischerweise zweieinhalb Minuten mehr beim Adagio, das indes Zerbrechlichkeit nicht zerbricht. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 5.11.2004)