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Hans Magnus Enzensberger

Foto: APA/epa/EFE/ stf

Er ist Lyriker, Essayist, Herausgeber, vor allem aber rastloser Entdecker unerforschter und Wiederentdecker vergessener Gedankenwelten von Diderot bis Humboldt: Hans Magnus Enzensberger wurde am Donnerstag, den 11. November, 75 Jahre alt.


München – Jeder Mensch ist auch sein Gegenteil. Im Fall Hans Magnus Enzensbergers klingt solche dialektische Festlegung allerdings schon wieder nach Vereinfachung: Warum nicht zwei, nicht drei Gegenteile? Warum nicht?

Die Urlust, aus den Konventionen des Denkens, und seien es die eben von ihm mitbegründeten, auszubrechen und ihnen eine betörend andere Sicht der Dinge entgegenzustellen, ist Enzensbergers reizvollste Weggefährtin. Mit Mackie Messer formuliert: "Es geht auch anders, doch so geht es auch." Nur muss das einem auffallen.

Enzensberger fällt es auf – und er behält sein Wissen großzügigerweise nicht für sich. Dem jeweiligen "so auch", den zahllosen Korrekturen, Alternativen, Erweiterungen zu einem stets schmalspurig gegleisten Zeitgeist verhilft er seit rund fünfzig Jahren ans Licht: als Autor wie als Herausgeber.

So begrüßte jüngst der findige Entdecker HME das 21. Jahrhundert mit der durchaus sperrigen Gedankenwelt des Gelehrten Alexander von Humboldt, dessen fünfbändigen Kosmos aus den Jahren 1845–66 er einer religionsmüden Gesellschaft als Gegenentwurf zur Bibel empfahl – mit einem Enthusiasmus und einer medialen Durchsetzungskraft, die dem durchaus nicht bestsellerverdächtigen Werk in wenigen Wochen zu 25.000 verkauften Exemplaren verhalf. Sollten die bildungshungrigen Erwerber die zahlreichen Sätze des schwerwiegenden geistigen Besitzes tatsächlich auch lesen (was zu bezweifeln erlaubt sei), wäre Humboldt 145 Jahre nach seinem Tod einer der populärsten Gelehrten der Gegenwart neben Stephen Hawking.

Kanon und Konsum

Ein Gedanke, der Enzensberger mit Sicherheit ein wissendes Grinsen entlocken kann – hat er doch mit dem anachronistischen Ausruf eines gedanklichen Humboldt-Kanons zugleich die Mechanismen des Konsums entlarvt. Und ist selbst längst, wie sein historisches Alter Ego, der (übrigens durchaus sinnen- und sinnlichkeitsfreudige) französische Aufklärer Denis Diderot, auf der Suche nach neuen Entdeckungen. Seit 19 Jahren publiziert er die Fundstücke als buchdruckerische Kleinode in seiner Anderen Bibliothek.

Noch einmal zwanzig Jahre früher, 1965, hatte er bereits das kritische Kursbuch gegründet, jene Zeitschrift, die den Studenten 1968 half, herauszufinden, wie unabhängig zu denken sei. Hinweise dieser Richtung gab – und gibt – er auch als Lyriker: von seinem Debütband, der 1957 erschienenen Verteidigung der Wölfe über landessprache (1960), den Untergang der Titanic (1978) bis zur 2003 erschienenen Geschichte der Wolken. Wieder anderen Lesern sind seine Essays und Aufsätze – Mittelmaß und Wahn (1988) oder Ach Europa! (1987) – der Enzensberger schlechthin.

Bliebe noch zu erwähnen der Suhrkamp-Lektor (60/61), der unlängst zum Suhrkamp-Weisen berufen wurde: in einem Ältestenrat, gemeinsam mit Jürgen Habermas, Alexander Kluge, Adolf Muschg und dem Hirnforscher Wolf Singer, der seine Weisheit in der Selbstabschaffung verwirklichte. Der Weltreisende: der Jahre hindurch in Norwegen, den USA, in Kuba, Mexiko und Italien lebte.

Geboren wurde er heute vor 75 Jahren inmitten lieblicher Ländlichkeit: in Kaufbeuren im Allgäu. Das im bayerischen Raum, aufgrund der dort angesiedelten Klinik, bis heute unheimliche Berühmtheit erfährt, zum Synonym geworden für den Ort der Narren. Jenen Normalitätsverweigerern, denen Enzensberger sich lebenslang listig und klug verbunden fühlt. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 11.11.2004)