Foto: Süddeutsche Bibliothek
Westdeutschland zu Beginn der Achtzigerjahre. Botho Strauß befindet sich im Zenit seines Ruhmes als Prosaschriftsteller, aber vielmehr noch als Theaterautor. Denn seine Stücke fegen den Staub von den Bühnen, den ein bundesrepublikanisches Betroffenheitstheater in lauter Erfahrungsgruppenseligkeit angesetzt hat.

Angekommen in einem visionslosen Finale findet die Bundesrepublik in Strauß ihren ebenso sensiblen wie gewieften, ja fast schelmischen Diagnostiker. Er schreibt fast im Jahrestakt und immer abwechselnd Komödien und Prosa. Als der Prosaband Paare, Passanten 1981 erscheint, ist der ehemalige Redakteur von Theater heute und Dramaturg an Peter Steins Schaubühne bereits einer der meistgespielten und -gelesenen, meistdiskutierten und -interpretierten Autoren der Republik. Und auch die neue Skizzenfolge gibt dem Affen Zucker. Denn sie ist nah dran an der damaligen Wirklichkeit.

Paare, Passanten ist das pointensichere Zeugnis einer teilnehmenden, verwundert-verwundet mitfühlenden Zeitgenossenschaft im Dämmerschein der Moderne. In über einhundert kurzen Prosasplittern wirft Strauß darin Schlaglichter auf deutsche Innenwelten, die sich im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts nicht mehr zu einem einheitlichen Gesellschaftsentwurf kitten lassen. Sein Pointilismus der Physiognomien und sorgsam stenografierten Befindlichkeiten ersetzt eine Dramaturgie des großen Spannungsbogens.

Personen tauchen auf als Episodenpersonal, als zumeist hilflose Akteure einer hochgradig verdichteten Wirklichkeit, die alle bis zur Lebens-Ermüdung überfordert: urbane Paare auf Zeit, Passanten ihres eigenen Lebens, in U-Bahnen, Cafés, auf Straßen - und in den Schlachthöfen bundesdeutscher Schlafzimmer.

Liebe? "Wir haben es hier eher zu tun mit einer liberaldemokratischen Einrichtung, chaoslos und angstfrei. Die Angst gehört den Atomkraftwerken." Hinter der Mitschrift des uneigentlichen Lebens muss Paare, Passanten auch als heimliche Programmschrift gelesen werden, als Absage an die Frankfurter Schule: "Heimat kommt auf (die doch keine Bleibe war), wenn ich in den Minima Moralia wieder lese", heißt es apodiktisch. Und: "Ohne Dialektik denken wir auf Anhieb dümmer; aber es muss sein: ohne sie!"

Dieses nun ganz anderen "Gottheiten" gewidmete Denken deutet sich in Paare, Passanten lediglich an - als Dauerflirt mit dem kettenrasselnden Mythos wird es spätere Strauß-Werke maßgeblich prägen. (DER STANDARD, Printausgabe, 4./5.12.2004)