Oliver Sacks,
Die feine New Yorker Farngesellschaft.
Ein Ausflug nach Mexiko. Euro 18,70/172 Seiten. Frederking & Thaler, München 2004.

Foto: Buchcover
Vor drei Jahren nahm der Neurologe Oliver Sacks an einer Reise in die mexikanische Provinz Oaxaca teil. Er fuhr nicht als Experte mit der Gruppe mit, sondern als Amateur, als Zaungast. Profis waren die anderen. Es handelte sich um Farnforscher aus den Vereinigten Staaten.

Warum der aus der Fachliteratur ebenso wie durch seine populärwissenschaftlichen Bücher bekannte Forscher Sacks (Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte; Awakenings - Zeit des Erwachens) mit Pteridologen auf den Hochebenen und in den Urwäldern von Zentralamerika nach mehr oder weniger unscheinbaren grünen Pflanzen sucht, wird schnell klar. Das Buch, das er über seine zehn Tage währende Erfahrung geschrieben hat, Die feine New Yorker Farngesellschaft, ist vor allem eine Hommage an deren uneigennützige Art, Wissen zu erwerben und zu teilen. "Es ist eine wunderbare Gruppe, (. . .) unverdorben, kooperativ, vereint in der Begeisterung für Farne. Es sind (. . .) Liebhaber im besten Sinn des Wortes, obwohl etliche über ein mehr als professionelles Wissen verfügen."

Sacks will sie bei der Forschung in der freien Natur erleben. Genauso neugierig aber ist er auf das Land, auf seine Geschichte, auf das Wechselspiel zwischen Einheimischen und Wissenschaftern, auf Religion und Essen, eigentlich auf alles, was zu so einer Reise gehört. Er schildert es unverschnörkelt, er sagt auch, dass er bloß seine Notizen von unterwegs wiedergegeben und nur gelegentlich angereichert hat. Also ein Reisetagebuch, was im Original - Oaxaca Journal - besser herauskommt als im eher irreführenden deutschen Titel.

Natürlich interessieren ihn die Farne auch, Sacks ist ja Naturwissenschaftler im weitesten Sinn, und er findet einen persönlichen, nicht ganz unironischen Grund für seine spezielle Vorliebe. Nachdem er ein mitreisendes Ehepaar beschrieben hat, das sich für wunderschöne, dramatisch rot blühende Pflanzen begeistert, setzt er fort: "Ich dagegen - obwohl ich die Schönheit solcher Anpassungen durchaus zu schätzen weiß - bevorzuge die grüne und geruchlose Welt der Farne, eine uralte grüne Welt aus der Zeit, als es keine Blüten gab, eine Welt von sympathischer Zurückhaltung, als die Fortpflanzungsorgane - Staubgefäße und Stempel - noch nicht jedem auffällig entgegengereckt, sondern mit einem gewissen Feingefühl an der Unterseite der Farnwedel verborgen wurden."

Stellenweise liefert er sogar Zeichnungen von Farnen im Buch mit, die er vor Ort gemacht hat. Das Journal artet jedoch nie zu einer pedantischen Aufzählung von botanischen Funden und Bestimmungen aus. Sacks ist vielmehr an dem Trip als Erfahrung in den unterschiedlichsten Dimensionen interessiert. Er reflektiert über die, wie er sie nennt, "Reise in eine andere Zeit", über die Unterschiede zwischen der aztekischen und der noch älteren zapotekischen Kultur, über die Fragwürdigkeit des eurozentrischen Blicks auf den Fortschritt - wobei er so eine theoretische Floskel gar nicht verwendet, sondern in einfachen Worten schildert, was ist bzw. was man davon rekonstruiert hat, was vor 3000 Jahren gewesen ist: Manchmal kreuzt sich das neurologische Fachwissen des Oliver Sacks mit seinem Kunstverständnis und seinen Eindrücken vor Ort. Dann mutmaßt er über den Zusammenhang zwischen den Ornamenten in einem zapotekischen Palast, neurologischen Formenkonstanten und geometrischen Halluzinationen, wie sie bei Migräneanfällen auftreten. Und dann wiederum versucht er gar nicht, jemand anderer zu sein als ein 66-jähriger, rotgesichtiger Tourist, der am liebsten dauernd Land und Leute und sogar Soldaten fotografieren möchte, die den Finger am Abzug ihrer Maschinenpistole haben. Die Wirklichkeit holt auch die kauzigsten Feldforscher in den abgelegensten Tälern von Mexiko ein. Oliver Sacks gelingt es, ihrem Anliegen gerecht zu werden, ohne den Blick für das Ganze zu verlieren. (DER STANDARD, Printausgabe vom 4./5.12.2004)