Wien-Bilder aus den 30er-Jahren in der Centropa-Datenbank in der Josefstadt: "Als Erstes sucht jeder nach dem Namen seiner eigenen Familie."

Centropa
Wien - "Das Erste, was die Leute tun, ist, den Namen ihrer Familie zu suchen." Manche Dinge passieren einem einfach. Und irgendwann merkt man, dass das, was durch Zufall begonnen hat, einmalig ist. Edward Serotta ist es so gegangen - und jetzt kommt der in Wien lebende Amerikaner nicht mehr zum Durchatmen: "In den ersten Stunden, die wir am 15. September online waren, haben wir 150 Anfragen bekommen."

Serotta verkauft nichts. Er verschenkt nichts. Er erzählt Geschichten. Besser: Er lässt Geschichten erzählen: Auf der Homepage seines "Central Europe Center For Research and Documentation" veröffentlicht der 53-jährige Journalist Erinnerungen. Lebensgeschichten. Fotos. Mündlich überlieferte Geschichten. Individuelle Erzählungen, die Serotta und seine Mitarbeiter aufzeichnen - und dann, samt den dazu passenden historischen Familienfotos, online stellen.

Edward Serottas Projekt "Centropa" erzählt so Geschichten über das Leben der Juden in Europa. Geschichten über das Leben der Juden in Wien. Vor dem Holocaust. Während. Und danach. "Der Holocaust", erklärt der seit 15 Jahren über das jüdische Leben Osteuropas publizierende Serotta, "ist der zentrale Punkt in der Geschichte der Juden - aber auch die Zeit davor und danach ist wichtig."

Es war ein Zufall - im Zuge von Dreharbeiten -, der ihn Mitte der Neunzigerjahre in Rumänien über Berge von "herrenlosen" Familienfotos ließ. Bilder, wo es zu jedem Gesicht eine Geschichte zu erzählen gibt. Geschichten, die das Geschichtsbuch-Geschichtsbild unendlich erweitern. Weil da plötzlich Menschen zwischen den Jahreszahlen auftauchen.

Anderswo, etwa in Wien, müsste es ähnliche Familienfotos geben - und Menschen, die sich erinnern, wer da in die Kamera schaut. Und was aus diesen Leuten wurde.

Derzeit finden sich auf der Centropa-Homepage 65 Familiengeschichten - in denen auf zahllose weitere verwiesen wird. In Serottas Institut in der Josefstadt warten ein paar Hundert Geschichten und Tausende Fotos darauf, ins Internet gestellt zu werden. Das Institut geht in Anfragen unter. Aber "uns fehlt das Geld, in dem Tempo zu arbeiten, dass dem Interesse gerecht werden würde". Die Stadt Wien findet das Projekt gut - und gab. Ganze 3000 Euro. "Unsere Arbeit wird von amerikanischen Familien und Kommunen finanziert, die nicht ihre eigene Geschichte dokumentiert bekommen", wundert sich Serotta.

Doch auch ohne sichere Finanzierung interviewen seine (europaweit) 45 Mitarbeiter so viel und schnell sie können: "Als ich zu Jom Kippur in der Wiener Synagoge war, haben mich etliche alte Männer gefragt, warum sie noch nicht kontaktiert wurden - denn wenn sie sterben, sind auch ihre Geschichten verloren." (Thomas Rottenberg/DER STANDARD, Printausgabe, 5. Oktober 2002)