Von Silke Schnettler Wenn Kirsten Boie am Schreibtisch sitzt und ein Buch schreibt, hat sie stets eine spezielle Reihe mit Ordnern vor Augen: die mit all den Manuskripten, die sie nicht veröffentlicht hat. "Ich brauche dieses Wissen, dass ich alles wieder zurückziehen kann", sagt die Hamburger Kinder- und Jugendbuchautorin, die am 19. März 50 Jahre alt wird. Der wuchtige lila Hotelsessel, in dem sie sitzt, scheint sie fast zu verschlucken. Mit leiser Stimme erzählt Kirsten Boie, dass sie den ersten Kinderroman geschrieben hätte, weil das Jugendamt nach der Adoption ihres ersten Kindes von ihr verlangte, den Beruf als Gymnasiallehrerin aufzugeben. "Eigentlich wollte ich Groschenromane schreiben. Aber mir ist so schnell nichts eingefallen mit Arztfrauen und Förstern." Stattdessen machte sie die eigene Lebenssituation zum Thema: Paule ist ein Glücksgriff (1985) erzählt von einem 6-jährigen dunkelhäutigen Adoptivsohn. Kirsten Boies eigener Sohn war damals zwar noch ein Baby, aber auch dunkelhäutig, genau wie das Mädchen, das ihr Mann und sie zwei Jahre später adoptierten. In ihrem ersten Buch wird bereits deutlich, was Kirsten Boie später zu einer Kunstform entwickelte: die sensible, psychologisch genaue Beschreibung moderner Familien-Konstellationen aus Sicht der Kinder. "Der größte Fehler der Frauen ist ihr Mangel an Größenwahn", zitiert sie Irmtraut Morgner. Solange sie schreibe, könne sie ihre Zweifel ausschalten. "Aber sobald ich vom Tisch aufstehe, sind sie wieder da." In den letzten 15 Jahren hat sie immerhin 55 Kinder- und Jugendbücher geschrieben. "Wirklich? Es sieht aus wie Fließbandarbeit", sagt sie lächelnd. Sie weiß, dass sie diese Sorge nicht haben muss. Die Liste der Preise, die Kirsten Boie für ihre Bücher bekommen hat, füllt zwei DIN-A4-Seiten. Zurzeit ist sie für das Gesamtwerk als deutsche Kandidatin für den Hans-Christian-Andersen-Preis nominiert. Die international bedeutendste Auszeichnung für Kinder- und Jugendbuchautoren wird Ende März in Bologna vergeben. Kisten Boie schreibt über Gewalt, Rassismus und die kleinen und großen schmerzlichen Erfahrungen, die jedes Kind im Alltag macht. Niklas in Nicht Chicago, nicht hier (1999) zum Beispiel wird von einem Mitschüler subtil gequält. Seine Eltern glauben ihm schließlich. Der Vater geht zur Polizei, doch auch die ist ratlos. Niklas steht am Ende da mit seiner Hilflosigkeit und ohnmächtigen Wut. Aber Nicht Chicago, nicht hier ist kein Problemroman, aus dem einem auf jeder Seite die gute Absicht entgegenspringt. Kirsten Boie findet einen so expressiven Stil, dass man mitunter ein Langgedicht zu lesen meint. Wenn sie wie in Nicht Chicago, nicht hier mit literarischen Formen experimentiert, dann macht die promovierte Literaturwissenschafterin das sehr bewusst. Sie hat diverse Kinderliteratur-theoretische Aufsätze veröffentlicht, in letzter Zeit vor allem darüber, für wie wichtig sie es hält, Bücher für Leseanfänger zu schreiben, auch wenn ungeübte Leser eher mit trivialen Geschichten zu locken sind. Kirsten Boie hat keine Scheu, über Feen und Kuschelhasen zu schreiben und einem Buch auch mal ein etwas einfaches Happy End zu verpassen. So wie sie vom Bilderbuch bis zum Jugendroman das ganze Spektrum bedient, sagt sie, sie entscheide bei jedem Mal neu, wie viel Komplexität sie Kindern zumuten könne. Alle Bücher Kirsten Boies leben auch von ihrem ironisch distanzierten Tonfall. An dem haben vor allem Erwachsene ihren Spaß. Zum Beispiel wenn die achtjährige Lea in Jeder Tag ein Happening (1993) ihrem Freund gerne einen kitschigen Sinnspruch ins Poesiealbum schreiben und Glanzbilder dazu kleben möchte. Die Mutter drängt sie, mit krakeligen Buchstaben ein Brecht-Gedicht aufzuschreiben. "Dann kann man sich das auch in dreißig Jahren angucken, ohne rot zu werden." Dass Kirsten Boies eigene Kinder "nicht im Geringsten stolz" sind, dass ihre Mutter Kinder- und Jugendromane schreibt, bedauert sie zwar, aber sie akzeptiert es. "Ich bin ja auch keine Berühmtheit, die nur mit Bodyguard aus dem Haus geht." Und ihre Kinder hätten immer Angst, dass sie zu viel preisgibt. Daher achtet sie genau auf die Grenze zwischen privatem und öffentlichem Leben. Auch ihr erstes Buch Paule ist ein Glücksgriff sei "keinen Fitzel autobiografisch", sagt sie nachdrücklich. Mit einer Ausnahme: Als die Mutter hektisch zu putzen beginnt, weil die Frau vom Jugendamt sich zum Kontrollbesuch ankündigt, da schreibt die Adoptivmutter Kirsten Boie über sich selbst. Bücher von Kirsten Boie: Paule ist ein Glücksgriff. 123 öS,-/128 Seiten, Verlag Friedrich Oetinger, Hamburg 1985.

Nicht Chicago, nicht hier, 123 öS,-/120 Seiten, Verlag Friedrich Oetinger, Hamburg 1999.

Jeder Tag ein Happening, 123,-/120 Seiten, Verlag Friedrich Oetinger, Hamburg 1993.

Kirsten Boie hat unter anderem in folgenden Verlagen Bücher veröffentlicht: Verlag Friedrich Oetinger, Beltz & Gelberg, dtv.