Sehen und angesehen werden: Detektivin Miss Nobody (Senta Eichstaedt, li.) auf der "Jagd nach der Hundertpfundnote" (1913)

Foto: Filmarchiv
Die weit gehend unbekannten, weiblichen Stars des frühen deutschen Kinos stehen im Mittelpunkt von "Die Unheimlichkeit des Blicks", der aktuellen Retrospektive des Filmarchiv Austria im Wiener Metro-Kino.


Wien - Ein Künstler erliegt den Reizen einer jungen Frau. Sie erleichtert ihn um seine Barschaft und wird eine gefeierte Tänzerin. Jahre später - sie ist inzwischen die Ehefrau jenes fernen Freundes, der den Geprellten einst vor der "Sumpfblume" warnte -, holt sie die Vergangenheit ein. Es kommt zu einer entscheidenden Konfrontation, die für alle Beteiligten tragisch endet.

Die Sumpfblume heißt der nur als Fragment erhaltene Film von Viggo Larsen aus dem Jahr 1913. Ein Salondrama mit frivolen Untertönen und einem ausgeprägten, notdürftig künstlerisch verbrämten Interesse am nackten Frauenfuß, das neben seiner kolportagehaften Handlung jedoch noch eine andere Geschichte erzählt: Immer wieder tritt die Akteurin scheinbar ein klein wenig aus dem Geschehen heraus. Lachend schaut sie etwa in die Kamera, während sich im Hintergrund Bräutigam und künftige Schwiegermutter von der Integrität der in Misskredit gebrachten Tänzerin gerade ganz hin- und hergerissen zeigen. So entstehen Bündnisse mit dem Publikum, werden Regeln unterlaufen.

Dass Die Sumpfblume mehr als neunzig Jahre nach ihrer Erstaufführung am kommenden Samstag wieder auf dem Kinospielplan steht, verdankt sich der aktuellen, umfangreichen Retrospektive des Filmarchiv Austria. Die Unheimlichkeit des Blicks. Subversion und Geschlecht im Kino der Kaiserzeit heißt die Schau im Metro-Kino, die die Kuratorinnen und Filmwissenschafterinnen Karola Gramann und Heide Schlüpmann zusammengestellt haben.

Diesem und anderen Programmen zum frühen Kino, die das vielfältige, immer noch erstaunlich lebendig wirkende Filmschaffen dieser Epoche nun wieder für ein Kinopublikum zugänglich machen, geht eine seit den 80er-Jahren erfolgte Neubewertung der Anfänge der Kinematografie voraus:

Zum einen werden etwa die Erzählformen des Stummfilms nicht mehr länger als primitive Vorläufer angesehen, sondern als eigenständige Ausdrucksform bewertet. Wesentlich geprägt von einer unbändigen Lust am Schauen und am Zeigen, an der Sensation der bewegten Bilder.

Sehenden Auges

Die Unheimlichkeit des Blicks wendet sich im Speziellen den Frauen im Film und vor der Kamera zu. Auch hier bestimmten lange jene Einschätzungen die Wahrnehmung, die an der Auseinandersetzung mit dem späteren, klassischen Spielfilm, seinen Blickregimes und Blickverboten, geschult waren.

Die Retrospektive macht dagegen anschaulich, dass diese Regulierungen im frühen, hier: im Wilhelminischen Kino noch weniger greifen. Zwar wurden im Sinne eines "Kinos der Attraktionen" auch die Frauen ausgestellt und angeblickt. Zugleich wurden ihnen jedoch auch Freiräume eröffnet, Energien frei gesetzt, Rollenbilder mobilisiert: Serien mit weiblichen Detektiven, Abenteuerfilme mit Löwenbändigerinnen entstanden.

Darüber hinaus fand die Lebensrealität der (proletarischen) Zuschauerinnen Eingang in die fiktionale Welt des Kinos: Die Schauspielerin Wanda Treumann etwa, die vom Plakat der Schau offenen, neugierigen Auges herunterblickt und als Sumpfblume noch ein tragisches Schicksal erlitt, spielt in Wandas Trick (1918) eine Fabriksarbeiterin.

Das Happyend - als sehnsuchtsvoller Fluchtpunkt - beschränkt sich hier nicht allein auf die Eheschließung mit dem Fabriksbesitzer: Wanda hat zuvor ihre Fähigkeiten in Sachen PR unter Beweis gestellt, die Firma mit ihrer Aktion gerettet und sie wird auch als Geschäftspartnerin anerkannt. Nicht nur in dieser Hinsicht erweist sich das frühe Kino also als manchem zeitgenössischen Film weit überlegen. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 14.1.2005)