Alain Finkielkraut ortet mangelhafte Integrations­bestrebungen

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STANDARD: Herr Finkielkraut, der World Jewish Congress hat sich in der vergangenen Woche abermals besorgt über die Zunahme des Antisemitismus in der EU gezeigt. Da war auch Frankreich mit gemeint und die Übergriffe gegen Juden von muslimischer Seite, von denen zunehmend die Rede ist. Wie stellt sich denn dieses Problem gegenwärtig für Sie dar? Finkielkraut: Es ist so, dass sich eine zunehmende Anzahl französischer Muslime in einem Zustand der kulturellen Sezession bewegt. Das zeigt sich durch eine Identifikation mit einer muslimischen Nation, die man sich als weltumspannend vorstellt, aber auch durch eine Identifikation mit den palästinensischen Kamikazes und den Djihadisten, die für 9/11 oder Madrid verantwortlich sind.

Diese Sezession hat gravierende Auswirkungen, auch ins Schulwesen hinein. Die Schleierdebatte gehört hierher, die Lektüre von Rousseau oder Molière - speziell die des "Tartuffe" - wird verweigert, die Geschichte in Termini der Heilsgeschichte interpretiert.

Eine vom Unterrichtsministerium an 60 Schulen durchgeführte Untersuchung hat entsprechende Belege zuhauf erbracht - doch bemerkenswerterweise wird diese Studie vom Ministerium unter Verschluss gehalten und auch in den Medien verschwiegen.

STANDARD: Warum sollte das der Fall sein?

Finkielkraut: Weil man keine Lösung für das Problem hat und daher Angst, es überhaupt anzusprechen. Bei den Journalisten geschieht dies vor allem aus dem Impuls heraus, dass man die Religion der Armen nicht stigmatisieren will. Aus einem legitimen Motiv heraus wird ein real existierendes Problem versteckt.

STANDARD: Kann man im Fall Frankreichs "Muslime" mit "Arabern" gleichsetzen?

Finkielkraut: Ich kann Ihnen keine exakte Artwort darauf geben. Ich bin kein Soziologe. Was ich Ihnen aber sagen kann, ist, dass der Islam zu einem stark identitätsstiftenden Moment geworden ist. In gewisser Hinsicht hat die Zugehörigkeit zum Islam die Arabischstämmigkeit ("l'arabité") abgelöst. Parallel dazu haben antirassistische Kreise den Begriff der "Islamophobie" geprägt, der ebenfalls dazu dient, sich ein real existierendes Problem vom Leibe zu halten. Wenn sich allerdings Le Pen in einer Zeitschrift, die gerade einmal fünf- bis zehntausend Leser hat, nostalgisch über die Nazis äußert, dann ist die Welt der Feindbilder in Ordnung, dann weiß man, wen man kritisieren kann.

STANDARD: Nun gab es doch Bestrebungen Ihres Ministers Nicolas Sarkozy, die Integration der Muslime auf neuen Wegen zu betreiben.

Finkielkraut: Das ist richtig. Sarkozy hat, ebenfalls aus den besten Absichten der Welt, einen repräsentativen Rat der muslimischen Institutionen in Frankreich ins Leben gerufen, aber ich stelle fest, dass sein Plan im Scheitern begriffen ist. Das hat vor allem damit zu tun, dass die Vereinigung, die in diesem Rat das Sagen hat, die UOIF (Union des Organisations Islamiques de France), eine durch und durch radikale islamistische Organisation ist.

STANDARD: Gibt es Kontakte zwischen der extremen Rechten und radikalen Islamisten in Frankreich im Sinne gemeinsamer Feindbilder: Israel, Vereinigte Staaten?

Finkielkraut: Die gibt es eher zwischen der extremen Linken und radikalen Islamisten. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 19. 1. 2005)