St. Moritz, hat jemand gesagt, ist das Kitzbühel der Schweiz, aber da würden sich die St. Moritzer schön bedanken für die Unterstellung. Keine Aufregung, liebe Kitzbühler: Ihr habt's eh schöne Bichl. Aber die St. Moritzer auch


Ihr habt eh einen schönen Ort, liebe Kitzbühler, aber der dort ist auch nicht schlecht. Ihr habt halt das laute Geld zu Gast und die St. Moritzer das leise.

In die Schweiz reist der gemeine Nichtschweizer ein bisschen als Ethnologe auf der Suche nach vergessenen Steinzeitvölkern. Das erste Mal am Flughafen Zürich ankommen ist wie Sumatra entdecken, aber das legt sich mit der Zeit. Den Forscherblick behält der Fremde trotzdem, neugierig-angespannt und vorsichtig zugleich. Zuerst stellt er den herrschenden Zivilisationsgrad fest, indem er Vorgefundenes mit Bekanntem vergleicht. Etwa ob sie hier auch schon die Einrichtung des Mietwagens kennen, in Griechenland beispielsweise hat die Firma Sixt gut bedient, und siehe da: Sie tut es auch in Zürich mit ausgesuchter Höflichkeit und einer deutschen Automarke, die ein Stern auf dem Kühler ziert. Das beruhigt auf dem Weg ins Engadin.

Schweizer - wie mit grobem Messer aus Holz geschnitzt

Oscar Wilde hat bekanntlich geschrieben, die Schweizer seien wie mit grobem Messer aus Holz geschnitzt, die meisten jedenfalls, und der Rest aus Steckrüben. Das mag zu seiner Zeit gestimmt haben, als der Fremdenverkehr auch nach St. Moritz kam und alter Reichtum ältere Armut traf. In den Jahrzehnten seither hat diese Kombination eine seltene Form des Kommunismus produziert, der die schönsten Früchte trägt - wie's halt kommt, wenn den Reichen nicht auf Mord und Brand genommen wird. Jetzt ist der vormals arme Wirt oft reicher als sein Gast, der mehr oder weniger anmutige Anstrengungen unternimmt, vorne zu bleiben: Wie beispielsweise ein indischer - früher sagte man - Nabob, der sich an bester Stelle im Ort eine Hütte um 65 Millionen Fränkli hinstellen ließ, die aussieht wie ein verschindeltes Gemeindehallenbad. Rasch lernt der Uneingeweihte, dass Geld hier ein sehr relativer Begriff ist, den Steckrübenköpfen hat es den weichen Schimmer milder Dekadenz verliehen.

Kempinski Grand Hotel des Bains ...

Das Kempinski Grand Hotel des Bains ist ein besonders feines Beispiel dafür, wie man dieses spezielle Amalgam wieder zum Leuchten bringen kann. Es ist ein wundervoller Kasten, dessen Vorgänger im Baedeker von 1904 schon als bestes Haus am Platz gepriesen wurde. Die Kempinski-Gruppe erbarmte sich des alten Kurhauses und verhinderte mit viel Geschmack sowie 55 Millionen Franken seinen völligen Verfall: Am 15. Dezember 2002 öffnete sich das Grand Hotel, innen und außen schöner denn je, wieder den Gästen - mit 184 Zimmern und Suiten, zwei grandiosen Restaurants, zwei Bars, die nicht nur täglich praktizierenden Trinkern Tränen der Rührung in die Augen treiben, und einem Spa-Bereich auf 2000 Quadratmetern, der seinesgleichen noch nicht gefunden hat. Der Spa ist quasi naturgegeben, liegt das Hotel doch direkt an der Mauritius Quelle, die St. Moritz fremdenverkehrsmäßig begründet hat.

... mit dem Shootingstar der Schweizer Gastronomie

So ehrwürdig alt der Mantel des schönen Hauses wirkt, so jung und flott ist es im Kern: Mit Ivan Gotfredsen kocht der 29-jährige Shootingstar der Schweizer Gastronomie gemeinsam mit seinem 24-jährigen Kumpel Fabrizio Zanetti, der in St. Moritz zu Hause ist. Den Gast ereilt schon beim Betreten seines Zimmers ein Hinweis auf permanent abrufbare Genüsse: Drei Sorten Sorbets (Papaya auf Himbeere, Mango auf Kiwi und Kokos auf Ananas) stehen zur Erfrischung bereit. Mit dem 33-jährigen Österreicher Rupert Simoner als Hotelmanager sorgt eine weitere unbejahrte Kraft für die vollkommene Umsetzung des Hotelprinzips, dass jugendliche Leichtigkeit keinen Widerspruch zu routinierter Genussfreude darstellen muss.

St. Moritz als Winterdestination zu preisen und besingen, wäre einigermaßen vermessen, ebenso das Kempinski als Ausgangspunkt für dazugehörige sportliche Aktivitäten. Nur so viel: Die Hahnenseeabfahrt endet praktisch an der Hausbar, die Loipe des Engadiner Skimarathons führt einen Eiswürfelwurf entfernt daran vorbei, gleich neben der Seilbahn, die von der Haustür auf die Corviglia fährt. In unmittelbarer Umgebung kann man sich Sportarten wie Cresta, Polo und Cricket hingeben oder ein Pferderennen besuchen.

Ardez, Champfer, Giarsun, Maloja, Pontresina ...

Einen ganz eigenen Reiz, viel rustikaler und erdiger als das vielbesungene winterliche Champagnerklima entwickelt die Gegend allerdings im Sommer und Herbst, der in Ortsnamen wie Ardez, Champfer, Giarsun, Maloja, Pontresina oder Silva- plana noch mitklingt. Wer je durch einen frühsommerlichen Hochwald ging in seiner noch frischen Wärme, kann ungefähr erahnen, was ihn auf dem Weg vom Punt Muragl nach Alp Languard erwartet.

Da spaziert man zwischen 1700 und 2300 Metern Höhe so vor sich hin, selbst die Almwiesen wirken wie jeden Tag frisch geschnäuzt und die Beerenstauden wie gestriegelt - wo nehmen die bei so viel Sauberkeit bloß die Kultur her? Das Wasser der Seen um St. Moritz glitzert herauf, als hätte es die schönen Augen, die Michelle Pfeiffer den fabelhaften Baker Boys macht. Und von drüben blickt der Piz Palü filmhistorisch so blendend herab, als müsste er jeden Tag den Luis Trenker am Gletscherfuß herausapern lassen - eine Kulisse seiner selbst und zum Gaudium des p.t. Publikums. Am Ende des Weges wartet keine Erkenntnis, sondern ein solides Wirtshaus mit zünftiger Labung.

Wo "Zarathustra" geschrieben wurde ...

In der anderen Richtung, auf dem Weg zum Malojapass, liegt Sils Maria und macht ganz den Eindruck, als hätte es sich seit der Zeit, als Friedrich Nietzsche hier auf Sommerfrische war, nicht viel bewegt. Das Haus, in dem er in den Sommern von 1881 bis 1888 wohnte und unter anderem am "Zarathustra" schrieb, ist heute ein Museum. "Alles Gute ist leicht. Alles Göttliche läuft auf zarten Füßen", steht auf einem Gedenkstein, einer seiner Aphorismen, no na. An Jogging kann Nietzsche dabei nicht gedacht haben, denn die Laufstrecke vom Kempinski am Ufer des Silvaplanasees entlang nach Sils Maria ist ausgesprochen heimtückisch, die Höhe tut ihr Bestes, das Gute nicht leicht und schon gar nicht göttlich daherkommen zu lassen. Wenn trotzdem ein Schatten wie auf Elfenflügeln vorbeihuscht, muss man nicht vor dem Genius Nietzsches auf die Knie sinken, es ist bloß Maria Mutola, die für den nächsten Weltrekord übt.

Zurück in St. Moritz, kann man den Schöpsenmaler Segantini in seinem Museum besuchen und sich über seine Werke wundern, oder in einer dieser Vollmondnächte auf die Berge gehen, in denen man den Abschiedsgesang der Wally zu vernehmen meint. In neun von zehn Fällen ist es die Callas aus der Konserve - auch nicht schlecht. (Samo Kobenter, Der Standard/rondo/25/02/2005)