Wir befinden uns im Bauch einer beliebigen Metropole, umzingelt von Werbeflächenwäldern und blinkenden Neonchiffren, penetriert von der gnadenlosen Signalfarben-Palette der Konsumgesellschaft. Und sehen zu Hause am liebsten auf weiße Wände. Denn was sonst, wenn nicht kalkiges, Ruhe verströmendes Weiß käme in diesem Fall als Überlebensstrategie infrage? Schließlich hat man die Schichten der Vergangenheit ja nach dem ersten Wohnungsumzug schon hinter sich gelassen.
Mehrere Generationen mit einem einzigen, kräftigen Anreißen, so sieht die Praxis beim Restaurieren alter Wohnungswände aus, und nicht selten tauchen dabei die Moden des 20. Jahrhunderts wie in einem rückwärts abgespulten Experimentalfilm wieder auf. Orangebraune Holzhammer-Dekos der 70er-Jahre, psychedelische Regenbogen mit Pop-Art-Konnex, darunter Fetzen undefinierbarer Blümchen, vielleicht auch abblätternde Wandbemalung, im Pastellgrün der Fifties, aber mit Walzenmustern aus den Vorkriegsjahren ausgeführt. Dann vielleicht gar noch Ölfarbe, der Horror aller Restaurierer, und Unterputz und aus.

Foto: Markus Benesch/Rasch/Tapetenfirma Marburg

Eine der obersten Stratosphären dieser Kulturarchäologie bleibt hinzu meist einem Leitfossil der späten 70er-Jahre vorbehalten: der Ratte unter den Tapeten. Sie heißt Raufaser, nährt sich von gepresstem Sägemehl und verbreitete sich wie eine Seuche. Eine kratzbürstige Laune des Designs, die alle anderen Wandkleider überlagerte und schließlich den Weg zur Blankowand ebnete. Nach dem Ende der Raufaser-Ära wurde es weiß an den Wänden, und glatt, und ruhig.
Und doch - obwohl die Unruhe draußen weitergeht, scheint der Dornröschenschlaf des Wandkleids allmählich vorüberzugehen. 20 Jahre sind eine lange Zeit, schon gar in der von Retro-Scouts getriebenen Trendmaschinerie der Designszene. So kommt, was lange Zeit abgemeldet war, häufig mit besonderem Glanz wieder zurück. Im Falle der allmählich wiederentdeckten Tapeten bedeutet dies unter anderem: Metallic-Look.

Foto: Markus Benesch/Rasch/Tapetenfirma Marburg

Very wallpaper, sagt man in England dazu, in Anlehnung an das gleichnamige Trendmagazin. Sehr Tapete. In der Tat. England, das sich traditionellerweise Blümchen und Bärlis an den Wandgips pappt, ist denn auch eine interessante Quelle fürs Comeback der Wandpapiere als metallisch glitzernde Prunkfolien. Wer etwa bei Graham & Brown vorbeisurft, kann sich davon einen ungefähren Eindruck machen. Beispiel Kollektion Sterling. Wer damit neoklassizistische Rosetten und Großbürger-Schnecken assoziiert, wird enttäuscht sein. Denn zum klassischen Tafelsilber passen die hypen Dekore nur bedingt. Stattdessen verweisen Schlagworte wie "Super Texture Fresco" auf die neue Rolle der Tapete. Das mit besonders tiefen Reliefs ins Spiel gebrachte haptische Element ist ein Teil davon. Die an metallische, gerippte Prägebleche erinnernde Abendrobe für die Wand ein anderer. Ein Fall für Spezialisten ist der glitzernde Auftritt der Tapete in jedem Fall.

Foto: Markus Benesch/Rasch/Tapetenfirma Marburg

Das bewies auch Ulf Moritz, der für die legendäre Tapetenfirma Marburg das Trendthema Metallic bearbeitete und den damit einhergehenden schillernden Charme mittels soften, in der Optik filzartigen Vlieses über gecrushte Papiertapeten im fernöstlichen Minimal-Look bis hin zu avantgardistischen Handdrucktapeten zu transportieren verstand. Dass es sich im Falle Moritz um einen wesentlichen Trendsetter in der Textilszene handelte, lässt die Metallic-Mode der Tapeten innerhalb eines weiter gefassten Konnexes erscheinen.
Eingewobene Metallfasern machten nämlich vor einiger Zeit auch in der Modeindustrie von sich reden - um wenig später von der Welt der Heimtextilien übernommen zu werden. Seither wehen die Silber- und Metallic-Fäden der avantgardistischen Stoffkreateure als exklusive Vorhänge im frischen Wind. Und durchaus variantenreich veredelt das hauchdünne Metall eben auch die Wand. Neben modernen Dessins wird freilich auch die Stilgeschichte bedient: Muster aus blinden Spiegelfliesen (erhältlich in verschiedenen Gold- und Silbertönen) zaubern etwa einen Hauch von venezianischer Palazzo-Romantik ins Eigenheim. Metallisch schillernde Barockmotive sorgen für ähnlich eindrucksvolle Antikeffekte.

Foto: Markus Benesch/Rasch/Tapetenfirma Marburg

Aus Deutschland vermeldet man Wandkleiderideen, die uns jauchzen machen oder aber schaudern, je nach Alter und persönlichem Reifegrad. Playstation-Boys und spätpubertäre Mittfünfziger können sich die abgedunkelte Bude etwa mit Videospiel-Optik tapezieren. Die Dekore "terrorcolor" und "high speed highway" - Resultate eines Wettbewerbs des deutschen Rats für Formgebung - lassen Einschlägiges ahnen. Ingo Maurer wiederum macht mit leuchtenden LED-Tapeten von sich reden, während die thermo-sensible "Clubtapete" unterschiedliche Farben und grafische Motive sichtbar macht.
Und doch ist all das nur ein Klacks, zieht man zum Vergleich Markus Beneschs Experimente heran. Der Mann probt gegenwärtig den Ausbruch der Wandpapiere in Richtung dritte Dimension. Allerdings nicht völlig grundlos. "Colorflage" heißt das Projekt, mit dem er eine ziemlich geradlinige Brücke vom reinen Dekor zur Einrichtung und der Innenarchitektur schlagen will. Dahinter stecken die Worte Color und Camouflage, Tarnung.

Foto: Markus Benesch/Rasch/Tapetenfirma Marburg

Die Wohnräume werden kleiner, schreibt Benesch, und Ruhe tut gut. Komprimierte Interieur-Konzepte sind ein Weg dorthin, und die gesamte Einrichtung mit einer einheitlichen Tapete zu überziehen verspricht Kompression genug. Dass sich verbaute Flure und unförmige Möbel durchs jeweilige Dekor auch noch ausgleichen lassen, etwa strecken und strukturieren, versteht sich dabei von selbst. Ganz neu ist die Idee der Ganzwohnungstapete allerdings nicht. Sie hatte uns bereits Rowan Atkinson alias Mr. Bean vorgezeigt. Er hat es versucht, scheiterte aber schließlich am Tapezieren der Trauben in seiner Obstschale.
(Robert Haidinger/Der Standard/rondo/11/03/2005)

Foto: Markus Benesch/Rasch/Tapetenfirma Marburg