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Standard: Was ist denn aus Ihrer Sicht die größte Alterslüge?“

Amann: Die größte der verbreiteten Lügen ist, dass das Pensionssystem und das Pflegevorsorgesystem, wie wir es zur Zeit haben, in Zukunft unfinanzierbar würde. Das ist völlig falsch. Es wäre nur dann einigermaßen plausibel, wenn für die ganze Zukunft kein Wirtschaftswachstum mehr in Aussicht stünde. Wenn wir aber Wirtschaftswachstum haben, müsste es der Tendenz nach zu höheren Bruttoeinkommen der Bevölkerung führen, und damit bleibt den Leuten einerseits netto mehr im Sack und andererseits können die Abgaben steigen.

Standard: Und man kann andere Verteilungsmechanismen wählen . . .

Amann: Das ist wesentlich eine politische Entscheidung. Außerdem zeigen alle EU-Umfragen, dass die Menschen gar nicht partout gegen Beitragserhöhungen sind.

Standard: Machen die Finanzierungskosten der Pensionen nicht den arbeitenden Teil der Bevölkerung ärmer?

Amann: De facto geht es nicht nur um fiskalische Ströme, sondern um die materielle Lage der gesamten Bevölkerung. Und da ist es eindeutig so, dass die finanziellen und materiellen Zuwendungen von der älteren Generation an die jüngere wesentlich größer sind als umgekehrt. Wenn es die permanenten Zuwendungen der Älteren zu den Jüngeren nicht gäbe, könnte sich ein großer Teil der erwachsenen Bevölkerung in Österreich samt ihren Kindern ihre Urlaube, ihren Lebensstandard und vieles andere einfach nicht leisten.

Standard: Wobei es da doch eine große Unschärfe gibt, weil man ja die Einschätzung, wer „älter“ ist, doch kaum korrekt definiert?

Amann: Die Zuschreibung, was Alter ist und was mit Alter zusammenhängt, ist überhaupt ziemlich beliebig – und fast immer vorurteilsbehaftet. Wenn es meinen Interessen als Arbeitgeber entspricht, dann ist für mich auch ein 35- Jähriger zu alt, basta.

Standard: So werden falsche Bilder vom Alter geschaffen? Amann: Auf der einen Seite gibt es die Schönheitsindustrie, die lebt und verdient am Thema eines junggebliebenen Alters, dann gibt es die, die Angst vor dem Alter haben – und eine Riesengruppe, die sich mit ihrem eigenen Älterwerden kaum auseinander setzt. Das ist eine ganz fatale Haltung, weil wir unsere kulturellen Praktiken, unsere sozialen Wahrnehmungen und Einstellungen auf ein immer längeres Leben überhaupt nicht einstellen.

Standard: Länger leben wird auch länger arbeiten heißen? Amann: Was überhaupt nicht diskutiert wird, ist die Frage des Älterwerdens der Erwerbsbevölkerung. Man muss sich vorstellen: Im Jahr 2010 wird das Durchschnittsalter der Erwerbsbevölkerung 42 Jahre sein. Wer macht sich eigentlich Gedanken darüber, wie ein Weiterqualifizierungsprogramm für einen 45-Jährigen ausschauen muss, damit es tatsächlich bewältigt werden kann?

Standard: Dumm gefragt: Lohnt das, dass ein 45-Jähriger noch etwas Neues lernt?

Amann: Da wären wir schon wieder bei unserem Altersbild, oder Altersvorurteil. Dass ein 55-Jähriger, der immer noch arbeitet, nicht mehr produktiv sein kann, ist glattweg eine Lüge. Man muss nur überlegen: Wo kann er produktiv sein? Das ist genauso wenig von vornherein klar bei einem Jungen. Wenn ich einen frischen HTL- oder Fachhochschulabgänger habe, ist auch nicht von vornherein klar, wo dessen beste Produktivität liegt. Das muss ich erst einmal im Betrieb herausfinden. Warum kann man das nicht bei einem Menschen, der 45 oder 50 Jahre ist? (Interview: Conrad Seidl, DER STANDARD Printausgabe, 19.03.2005)