Dünn oder dick, kurz oder lang: Warum manche Kaulquappen sich zu Minifröschlein ausbilden und andere bis zu zehnmal schwerere Brummer werden, bleibt nach wie vor im Trüben. Die Forscher können über die Wachstumsunterschiede nur mutmaßen.

Foto: Franziska Grözinger

Nicht weit davon entfernt sind ebenfalls Jungtiere unterwegs. Sie sind allerdings etwa doppelt so groß, wesentlich kräftiger und vor allem viel schwerer als ihre Nachbarn. Doch die Angehörigen beider Gruppen sind aus demselben Jahrgang und derselben Art - Rana temporaria, dem Grasfrosch. Zwerge und Riesen entstammen dem gleichen Umfeld. Eine seltsame Laune der Natur?

Mark-Oliver Rödel kennt das Phänomen. Der am Museum für Naturkunde in Berlin tätige Biologe befasst sich schon seit Jahren mit den Fortpflanzungsstrategien von Amphibien und hat bei seinen Forschungsarbeiten auch besagte Grasfroschpopulation in Bayern ausgiebig untersucht.

Die Tiere kommen je nach Wetterlage im März oder April aus ihren Winterquartieren. Dann zieht es sie sofort zur Vermehrung in die Tümpel. Wie jedes Jahr. "Die Laichgewässer sind in aller Regel dieselben", erklärt Rödel. Nur etwa 30 von insgesamt 120 Tümpeln im Waldareal werden immer wieder von den Fröschen zur Eiablage genutzt, die anderen dagegen nur selten aufgesucht. Die flinken Vierbeiner haben offensichtlich klare Präferenzen.

Die genauen Hintergründe dieses Wahlverhaltens wollte Rödel zusammen mit einigen Kollegen im Rahmen einer aufwändigen Feldstudie erörtern. Mehr als drei Monate lang nahm das Team 18 der Laichgewässer und den sich darin entwickelnden Froschnachwuchs detailliert unter die Lupe. In zwei darauffolgenden Jahren wurden Nachfolgeuntersuchungen durchgeführt. Man erfasste die Anzahl der Kaulquappen kurz nach dem Schlüpfen, dokumentierte die herrschenden Umweltbedingungen und ermittelte auch die Dichte der Räuber in den einzelnen Tümpeln. Froschbrut hat viele Feinde. Im Untersuchungsgebiet sind es vor allem Libellenlarven sowie ausgewachsene Bergmolche (Ichthyosaura alpestris), die Jagd auf Kaulquappen machen.

"Am Anfang sind die Mortalitätsraten sehr hoch", betont Rödel. Gerade die noch sehr kleinen Kaulquappen stellen für Prädatoren eine leichte Beute dar. Auch während der Metamorphose, der Verwandlung zum Minifrosch, steigt die Sterblichkeit noch einmal stark an, weil die Jungtiere in dieser Phase unter einer eingeschränkten Beweglichkeit leiden. Dementsprechend gering ist die Überlebensrate bis zum Landgang. Drei bis fünf Prozent gelten als hohe Quote, wie Rödel erläutert. Aus so manchem Tümpel kommt keiner lebend heraus.

Schwankende Überlebensrate

Von den 18 erforschten Laichgewässern brachten im Untersuchungsjahr nur elf "landfähigen" Grasfroschnachwuchs hervor. Für diesen schwankte die Überlebensrate zwischen 0,23 und 5,24 Prozent. Eine erhebliche Streuung. Noch bemerkenswerter waren allerdings die Größenunterschiede zwischen den Tieren. Manch frisch verwandelter Jungfrosch war sogar zehnmal so schwer wie seine etwa gleichaltrigen Artgenossen aus einem anderen Tümpel, berichtet Rödel. "Das war sehr überraschend."

Um die Auslöser von Riesen- und Zwergwuchs dingfest zu machen, unterzogen die Wissenschafter sämtliche vorliegenden, ökologisch relevanten Daten einer statistischen Analyse. Die Ergebnisse ließen jedoch keinen deutlichen Trend erkennen. Die einzelnen Kleingewässer unterschieden sich zwar stark hinsichtlich ihrer Tiefe, Räuberdichte, Beschattung und anderen Eigenschaften, aber es ließen sich kaum Bezüge zwischen der Überlebens- und Wachstumsrate des Froschnachwuchses einerseits und den Umweltfaktoren andererseits aufzeigen. Lediglich für die Präsenz von Wasserlinsen und dem Nitratgehalt konnten die Forscher eine statistisch relevante Korrelation feststellen. Hier waren die Variationen jedoch so groß, dass ein direkter Einfluss auf die Entwicklung der Kaulquappen kaum möglich scheint. Rödel und sein Team stehen vor einem Rätsel. Die detaillierten Studienergebnisse wurden vor wenigen Wochen im Onlinefachjournal PLoS One veröffentlicht.

Selektionsvorteile

Der merkwürdig offene Befund stellt eine bislang gängige Annahme infrage: Schneller Wuchs während der Jugendstadien sollte Fröschen im Erwachsenenalter eigentlich wesentliche Vorteile verschaffen. Größere Tiere sind mobiler, können an Land besser vor Räubern flüchten, "und sie nehmen mehr Ressourcen mit in den Winterschlaf", sagt Mark-Oliver Rödel. Abgesehen davon sind kräftige weibliche Grasfrösche fruchtbarer als ihre leichteren Artgenossinnen.

All diese Pluspunkte müssten großwüchsigen Eingeborenen aus bestimmten Tümpeln eigentlich einen evolutionären Selektionsvorteil bieten. Mit anderen Worten: Diejenigen Froschlinien, die sich immer wieder in Laichgewässern mit anscheinend schlechten Wachstums- und Überlebensbedingungen vermehren, sollten eigentlich mit der Zeit aussterben. Zumindest wenn es nach den Lehrbüchern geht.

Die Lage dürfte allerdings noch viel komplexer sein. "Vielleicht ist eingeschränktes Wachstum gar nicht so schlecht", mutmaßt Rödel. Womöglich fallen die Großen trotz ihrer Beweglichkeit doch eher an Land lauernden Räubern zum Opfer, weil Letztere dickere Exemplare bevorzugen.

Die Wachstumsgeschwindigkeit könnte auch im Erbgut vorprogrammiert sein. Ein einzelner Bestand würde dann verschiedene Teilpopulationen mit eigenen Fortpflanzungsstrategien und unterschiedlichen ökologischen Nischen hervorbringen. Genetische Untersuchungen sollen hierbei bald Aufschluss geben. "Wir wissen erstaunlich wenig über unsere heimische Tierwelt", meint Rödel. Manche Froschart im tropischen Regenwald sei mittlerweile besser untersucht. (Kurt de Swaaf, DER STANDARD, 21.5.2014)