Wenn man genau liest, stößt man immer wieder auf die Fähigkeit zum Blickwechsel, der über die Gewalt des Faktischen hinausführt: Erich Hackl.

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Ruth Klüger hat in ihrem Essay über Erich Hackl (Hackls Frauen, 2005) auf die vielen Liebesgeschichten in seinem Werk hingewiesen. Sie hat deren "Pole" darin gesehen, dass bei ihm "Familienleben und gewalttätiges Zeitgeschehen" in Konflikt miteinander geraten. Besonders an den weiblichen Menschen werde "die Perversität der Staatsgewalt deutlich, die das Band zwischen Liebespaaren und zwischen Eltern und Kindern, besonders zwischen Müttern und Kindern, stört bzw. zerstört".

So gelangt Ruth Klüger über die oft abstrakt gestellte Frage zum Dokumentarischen und nach dem Verhältnis von Faktizität und Fiktionalität hinaus zu der politischen Frage, wie die literarische Darstellung von Liebe, Familie, Mütterlichkeit, Väterlichkeit und Freundschaft in Hackls Büchern dazu beiträgt, aus dem Opferstatus der Unterdrückten auszubrechen. Sie zeigt, dass auch - oder besonders - die Frauen bei Hackl "niemals willenlos" hinnehmen, "was immer ihnen passiert. Sie denken nach, sie wehren sich, sind politische Menschen, wie die Männer auch, und meistern die Kunst des Überlebens."

Unausgesprochen gibt Klügers Lektüre zu verstehen, dass Hackls Konzentration auf diese Fragen - "Mütterlichkeit", "Familie", "Liebe" - nicht in eine konservative Epik führt, sondern die Voraussetzungen des menschlichen und sozialen Widerstands verhandelt. Man könnte auch sagen, dass Hackls Erzählen eine Beziehung zu Brecht herstellt, zum Beispiel zur Würdigung der mütterlichen Menschen im Kaukasischen Kreidekreis oder zu den späten Brecht-Gedichten mit ihrer Verteidigung eines weiterhelfenden Denkens und Schreibens, jenes Epischen, das auf eine befreiende, dem genauen Studium der Wirklichkeit und der Wissenschaft zugetane erzählerische Kunst zielt.

In seiner literaturwissenschaftlichen Abschlussarbeit des Romanistikstudiums an der Universität Salzburg (1978) hat Erich Hackl diesen Weg der Literatur in der Literaturgeschichte Spaniens von 1900 bis 1936 nachgezeichnet und vor allem am Werk Antonio Machados die Hinwendung zur Wirklichkeit der arbeitenden Menschen beschrieben. Er habe mit der Vorstellung gebrochen, die eigene bürgerliche Kultur dem Volk näherzubringen: "Mit Machado endet die Geschichtsblindheit und -feindlichkeit in der spanischen Literatur. Mit ihm endet auch die Unachtsamkeit der Schriftsteller gegenüber dem Proletariat, gegenüber dessen bitterer Wirklichkeit."

Am Beginn dieses Jahres erschien die in Zusammenarbeit mit Evelyne Polt-Heinzl erstellte Sammlung von Geschichten über den Februar 1934 - Im Kältefieber (2014). Im "Vorwort" erinnert Hackl an die Achtzigerjahre, als auf breiterer Basis eine "Hinwendung zu einer durch Naziherrschaft und Krieg unterbrochenen linken Tradition" erfolgte und ein neues Bewusstsein für die internationale Dimension des Widerstands gewonnen wurde. Dass der Aufstand der österreichischen Arbeiter brutal vom Militär des austrofaschistischen Ständestaates niedergeschlagen wurde und man mit Todesurteilen den Widerstand ersticken wollte, hatte ungeheure Folgen für die weitere Geschichte. Sie klingen in dem kurzen Satz an, mit dem Jean Améry am 12. Februar 1964 in Brüssel, der Stadt seines immerwährenden Exils, einen Brief an den in Wien lebenden Ernst Mayer beginnt: "Heute, am 12. Februar, dreissig Jahre nach dem Unglückstag, der vielleicht der eigentliche Anfang all unserer Prüfungen war ..."

Wenn man sich fragt, was das Neue war, das in der österreichischen Literatur der Achtzigerjahre begann und das Erich Hackls Schreiben mitgetragen hat, kommt man nicht herum um die symbolische Bedeutung der militärischen Erhebung in Wien und Madrid am Vorabend der Vernichtung. In dieser internationalen geschichtlichen Perspektive, im Eingedenken des Geschehenen und dessen, was damals geschichtlich möglich gewesen wäre, überhaupt in der so nie davor dagewesenen Aufmerksamkeit für die Weltgeschichte der Arbeiterbewegung und des Widerstands liegt die Horizonterweiterung der österreichischen Literatur in den Achtzigerjahren des vorigen Jahrhunderts. Hier wäre etwas Umfassenderes zu finden, das scheinbar so konträre Autoren wie zum Beispiel Erich Hackl und Peter Handke verbindet.

1986 erschien Handkes Erzählung Die Wiederholung; "wiederholen", das meint, die Geschichte des slowenischen Widerstands gegen die NS-Herrschaft aus der Versenkung hervorzuholen, im Erzählen dem Partisanenkampf seine Bedeutung und seine Würde zurückzuerstatten. Das Narrativ einer neuen Klassik, die Handke seit Ende der Siebzigerjahre anstrebte, war die Geschichte der im Hitlerkrieg gefallenen slowenischen Brüder der Mutter, die er in seinem Familienmythos verwandelte in Partisanen, zu deren Suche der jugendliche Erzähler nach Jugoslawien aufbricht. Auch der Spanische Bürgerkrieg begegnet immer wieder in Handkes Werk. Der auf dem Weg ins Exil verstorbene republikanische Dichter Antonio Machado, der schon dem jungen Erich Hackl vorbildlich erschien, kommt am Schluss von Handkes Jugoslawien-Drama Die Fahrt im Einbaum (1999) durch einige Verse zu Wort, die sein - vom Autor erfundener - Sohn Louis Machado aus einem Gedicht des Vaters zitiert.

Am Beginn der Achtzigerjahre erschien Marie-Thérèse Kerschbaumers Der weibliche Name des Widerstands. Sieben Berichte (1980), am Ende dieses Jahrzehnts ihr Prosapoem Versuchung (1990), in welchem eine Frau allein nach Spanien aufbricht, um nach Spuren der Kämpfe der Interbrigaden zu suchen, ihrer Niederlagen und ihres Wegs in die französischen Lager, bevor das große Schlachten einsetzte und viele von ihnen, in die deutschen Vernichtungslager deportiert, ums Leben kamen.

1984 erschien Elisabeth Reicharts Roman Februarschatten, der jenen anderen Februar nennt, in welchem die sowjetischen Häftlinge aus dem KZ Mauthausen flüchteten und von der Bevölkerung des Umkreises ermordet wurden. 1991 kam Fred Wanders Roman über das Exil, Hotel Baalbek, heraus, für dessen Neuauflage 2007 Erich Hackl das Nachwort geschrieben hat.

"13. Feber. Im Herzmund erwachtes Schibboleth", beginnt Paul Celans Gedicht In eins. In einem anderen Gedicht, das den Titel Schibboleth trägt, findet man den Kampf der spanischen Republikaner und der antifaschistischen österreichischen Arbeiter als eine heute und für immer aktuelle Erinnerung, die Mut macht und das Herz erweitert und Gedächtnis und Sprache in Bewegung setzt. "Flöte, / Doppelflöte der Nacht", so spricht das Ich des Gedichts den hoffnungsvollen Kampf gegen den Faschismus in Wien und in Madrid an: "Doppelflöte der Nacht: / denke der Zwillingsröte / in Wien und Madrid", um dann fortzufahren mit einem Appell des Schreibenden an sich selber, sich "in der Mitte des Marktes" zu bekennen, in jener fremden Welt des inzwischen universalen Marktes, wie man sagen könnte, dieser Perversion des großen Gedankens des Kommunalen als einer "res publica", einer gemeinsamen, öffentlichen Sache: "Herz: / gib dich auch hier zu erkennen / hier, in der Mitte des Marktes. / Ruf's, das Schibboleth, / in die Fremde der Heimat: Februar. No pasaràn."

Erich Hackl stellte sich oft die Frage, wie es gelingt, dass die Darstellung, die sich auf überprüfbare Dokumente und Daten und Orte stützt, in "Schwingung" gerät und uns zum Mitschwingen bringt. Es dürfe die Last und das Bedrückende der Fakten nicht überspielt werden, und sie sollten trotzdem nicht lähmend wirken und uns nicht unfrei machen. Letztlich ist es die künstlerische "Gestaltung", von der er öfter spricht, die den Zwang und die Gewalt der Faktizität des Geschehenen zu lockern hätte, um den Blick frei zu machen für die "Schibboleths", die ins Offene weisen.

Wenn man genau liest, stößt man in Erich Hackls Büchern immer wieder auf diese Fähigkeit zum Blickwechsel, der hinausführt über die Gewalt des Faktischen. In der Erzählung Familie Klagsbrunn, es ist die erste der vor kurzem erschienenen Drei tränenlose[n] Geschichten, treffen Marta Klagsbrunn und ihr Mann Viktor nach Folter und Gefängnishaft auf einer Militärkommandantur zur Gegenüberstellung zusammen.

Die beiden gehören in Hackls Büchern zu den vielen verheirateten Liebespaaren, die der äußersten Gewalt des politischen Terrors ausgesetzt sind. Aber wenn sie einander plötzlich sehen, schenkt ihnen der Erzähler die Fähigkeit, "nur Augen füreinander" zu haben, "Augen, zu sehen, was in ihnen heil geblieben ist, was ihnen angetan worden ist, was sie in Gedanken oder in Träumen heimsuchen wird". Und der Erzähler wendet sich dann den Gedichten zu, "die Marta nach Jahren schreiben wird, für sich, unter dem Zwang des Erinnerns". Und eines dieser Gedichte ist als Dokument in einer Übersetzung aus dem Portugiesischen in die Erzählung aufgenommen worden. Wenigstens im Schreiben möchte sie sich vom erlebten Trauma zu befreien versuchen und aus dem Gefängnis, das in ihr Ich hineingesenkt ist, herausfinden. (Hans Höller, Album, DER STANDARD, 24./25.5.2014)