Europa und den Euro kann man nicht so einfach in die Tasche stecken, wie manche glauben mögen.

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Edgar Honetschläger: Europa hat gelernt und tritt leiser.

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Tokio taucht in meiner Erinnerung auf, denn oft genug berührte mich dort eine Welle der Verachtung: "Dein Gesicht verrät dich, du gehörst nicht zu uns!" Wenn man Gast ist, erfährt man diese Dinge nicht; man muss jahrelang in einer anderen Kultur leben, um ein wenig von ihr zu erahnen.

Gehen wir Richtung Westen, finden wir uns, von Japan aus gesehen, in der neuen Wirtschaftsmacht China - geführt von einem menschenverachtenden Regime, das alles Andersdenken erstickt, ausmerzt und ums Leben bringt. Wir fliehen nach Russland - Pussy Riot ist nur ein Synonym, die Oberen an der Wolga schimpfen uns Europäer "Schwuchtelpartie".

Bleiben uns noch Afrika, der alte Kontinent der ewigen Hoffnung, und Südamerika. Brasilien als neuer Hoffnungsmarkt ist das Land, das sich über die Jahrhunderte den wohl eigensinnigsten Zugang zu Wirklichkeit erarbeitet hat, eine nicht genuine kulturelle Leistung - vor allem im 20. Jahrhundert. Es unterscheidet sich von allen anderen Staaten Lateinamerikas insofern, als deren Denken und Großstädte müde Repliken eines christlichen Europa sind. Für den Kontinent gilt: Demokratie findet nur partiell statt, der Feudalismus regiert, die längst überholten Strukturen brechen nur langsam auf.

Bleibt das gute alte Amerika als Zukunftsverheißung, sprich Silicon Valley und die Daten der ganzen Welt, die in "the land of the free" gespeichert werden. Bei einem Vortrag in Los Angeles wagte ich zu fragen: "Seid ihr euch bewusst, dass die Bürger Europas im Moment mehr persönliche Freiheit genießen als ihr Kalifornier?" Wider Erwarten erntete ich Applaus. Benjamin Franklin sagte: "Es ist die Aufgabe jedes Bürgers, die Autoritäten infrage zu stellen", und Präsident Franklin D. Roosevelt rund 150 Jahre später: "Die Freiheit der Demokratie ist bedroht, wenn die Bürger das Erblühen individueller Macht bis zu einem Punkt tolerieren, wo sie stärker wird als der demokratische Staat selbst. Dies ist in seiner Essenz Faschismus, wenn eine einzige Person oder Gruppe die Staatsgewalt innehat."

Dies ruft das tausendjährige Byzanz ins Gedächtnis, in dem der Kaiser das Recht hatte, jeden Bürger, der zu reich und damit eine Bedrohung für den Staat und die Gemeinschaft wurde, zu enteignen. Stelle ich Amerikas demokratische Prinzipien infrage? In mancher Hinsicht ja, denn die großen, von Konzernen abhängigen Networks er- und unterdrücken die Meinung kritischer Journalisten und Individuen. Die mögen sich heute online in Blogs und in sozialen Medien finden; wir wissen, dass diese Meinungen zusehends innerhalb der befreundeten Gruppe verortet bleiben, sozusagen in einem Gefängnis vermeintlicher Freiheit. Edward Snowden lässt grüßen.

Wenn ich an Zukunft denke, dann fällt mir in erster Linie Demokratie ein. Noch gibt es davon in den meisten europäischen Ländern mehr als sonst wo auf der Welt. Ein Individuum kann ungeschminkt und vor laufenden Kameras ein jeweiliges Staatsoberhaupt verunglimpfen und wird nicht unter Verfolgung leiden müssen. Das mag ökonomische Nachteile nach sich ziehen, aber nichts Existenzbedrohendes. Das nenne ich Freiheit. Das böse Europa, das die Welt so lange geschunden hat, Europa, das nicht allein wegen des Holocausts, sondern auch wegen seiner Kolonialgeschichte leisetreten sollte. Und das tut es auch, denn es ist sich herrlich uneinig.

Solange es so bleibt, kann es nicht so viel Schaden anrichten wie die anderen großen Blöcke. Europa hat gelernt: Vor rund drei Jahren schickte ich ein Foto der damals führenden deutschen Politikerkaste, sprich Bundeskanzler, Finanzminister und Außenminister, an Freunde in aller Welt: eine Frau, einen Mann im Rollstuhl und einen offen bekennenden Schwulen.

Europa setzt auf Diversität und Kultur - und das muss weiter so bleiben. Vertreiben Politik und Immobilienhaie die über Generationen ansässige Bevölkerung und die Kulturschaffenden aus den Zentren der Städte, so werden diese zu kristallenen, wie zu Eis gefrorenen Skulpturen. Nichts als traurige Fassaden ohne Lichter, die in der Nacht angehen.

Öffnet die immer leerer werdenden Städte des Südens für Einwanderung! Kein Teil der Welt kann auf alle Zeiten von nur einer Kultur besetzt bleiben. Wir können und dürfen uns der aktuellen Völkerwanderung nicht mehr verschließen. Wir brauchen diese Menschen. Amerika hat jahrhundertelang von Immigration profitiert. Ab welcher Generation wird das Europa endlich begreifen?

Europa, heißt es, gerät wirtschaftlich ins Hintertreffen, Europa spielt keine Rolle mehr auf der politischen Weltbühne, Europa ist nicht mehr innovativ! Na und? Wir haben gelernt, eine andere Rolle zu spielen. Die Botschaft der Freiheit in der Welt zu verkörpern könnte eine kleine Wiedergutmachung für unsere dunkle Vergangenheit sein. Nicht die in den neoliberalen Jahren in den Hintergrund gedrängte soziale Nivellierung soll für uns sprechen, sondern der Transfer von Reich zu Arm - an dem wir in der Hoffnung auf eine glückliche Zukunft noch einen langen Weg vor uns haben. In der Verteidigung demokratischer Prinzipien und in der Gleichbehandlung der Bürger - auch jener, die von außen kommen - liegen die Zukunft und die Attraktion Europas.

Edgar Honetschläger (Jg. 1967) ist bildender Künstler und Filmemacher. Er lebt in Japan und Österreich und verbrachte Jahrzehnte in den USA, Brasilien und europäischen Ländern. (Edgar Honetschläger, DER STANDARD, 24.5.2014)