Showbiz macht Arbeit: Maria Anders (Juliette Binoche, re.) und Assistentin (Kristen Stewart).

Foto: Festival Cannes

Die Weltpremiere eines Films von Jean-Luc Godard hat etwas von einer kultischen Zeremonie. Vor dem Grand Théâtre Lumière herrscht enormes Gedränge, und der riesige Saal ist so schnell gefüllt, wie noch kaum einen Tag davor. Die Filmkritik scheint zu erwarten, hier die Antworten auf ungelöste Fragen zu erhalten. Ein Grabgesang? Ein Fanal für die Gegenwart? Eine Vision der Zukunft? Schließlich drehte JLG erstmals auch abendfüllend auf 3-D, in jener Technologie, mit der die Industrie das Kino zu retten versucht.

Und dann: Verwirrung und Euphorie. Ein Film von Godard, dem Orakel vom Genfer See, an dessen Ufer er lebt und Adieu au langage gedreht hat, erschließt sich natürlich nicht in einer einzigen Vorführung. Doch keine andere Arbeit im Wettbewerb von Cannes vermag Denken und Sehen ähnlich herauszufordern. Auch deshalb, weil JLG uns mit spitzbübischem Charme überrascht. In manchen Passagen sieht jedes Auge etwas anderes: Die 3-D-Bilder driften auseinander, ein Effekt, der sich wie Schielen anfühlt. Ist das schon 6-D?

Mit Konventionen brechen

"Ich hasse Figuren", sagt eine der Figuren einmal. Ähnlich brachial ist der Film gegen die Illusionskraft des Kinos, seine Erzähl- und Wahrnehmungskonventionen gerichtet. Er zeigt kulturelle Übergänge auf: Hände, die in einem Buch blättern, daneben Finger, die über den Screen eines iPhones wischen. Eine einfache Geschichte sei das, steht im Presseheft: von einem Mann und einer Frau, die sich lieben und schließlich auseinanderdriften. "Immer wenn ich von Gleichheit rede, redest du von Scheiße", sagt die Frau zum Mann. Danach folgt man dem Hund Roxy, mit dem man in den Wald und in die Stadt, in eine andere Wahrnehmung, zu einem anderen Bildregime wechselt.

Einmal mehr sucht Godard die Überwindung eines Blicks, der seinen Gegenstand zu sehr festlegt, anstatt das Denken offen zu halten. Das Verhältnis von Realität und Vorstellung steht auf dem Prüfstand. Ist das Bild, das beides in sich vereint, wie Frankensteins Monster? Der Film quillt über vor Aphorismen. Eine Referenz gilt Antonin Artaud, der von einem Kino fantasiert hat, das unmögliche Bilder hervorbringt: Bilder, die uns wie Projektile treffen und nicht mehr darstellen wollen, das Zeichenhafte überwinden.

Godard - der dem Festival persönlich fernblieb, aber "in Freundschaft" eine Videobotschaft sandte - war nicht der Einzige, der am Ende des Festivals das Kino selbst zum Thema machte: Auch Olivier Assayas tritt mit Clouds of Sils Maria hinter imaginäre Vorhänge und erzählt von der Schauspielerin Maria Anders (Juliette Binoche), die sich in mehreren Etappen ihrer Vergangenheit stellt. Nach dem Tod ihres Entdeckers soll sie in einem Theaterstück mitwirken, in dem sie die Antagonistin jener Figur spielt, die sie berühmt gemacht hat.

Assayas baut daraus allerdings kein herkömmliches Backstage-Drama, sondern begleitet die Actrice in die Schweizer Berge, wo die Vorbereitung auf die Rolle zur Belastungsprobe gerät: Das Sequel wird zur Auseinandersetzung mit dem Bild, das man von sich erhalten möchte.

Das ist aber noch lange nicht die einzige Ebene dieses facettenreichen, klugen Films. In der Figur der Assistentin der Schauspielerin, die Twilight-Star Kristen Stewart cool zurückgenommen anlegt, erzählt er pointiert von Arbeitsbedingungen im Showbusiness. Das iPad ist das wichtigste Utensil der jungen Frau, ein Verbindungsstück zu einer weiteren Gegenwart von Bildern: Es verblüfft, wie Assayas ein Naturschauspiel wie die Maloja-Schlange mit den Ungleichzeitigkeiten innerhalb der Unterhaltungsindustrie zu verbinden versteht.

"Mommy" mit Chancen

Wenn am Samstagabend die Preise vergeben werden, könnte auch Clouds of Sils Maria eine Rolle spielen. Ein anderer Kandidat, der sich zuletzt ins Spiel gebracht hat, ist der 25-jährige Xavier Dolan, der im akklamierten Mommy eine stürmische Amour fou zwischen einer Mutter und ihrem unter ADHS leidenden Sohn entwirft. Der frankokanadische Shooting-Star zwängt sein Drama in ein 1:1-Format, das sich nur in zwei Momenten der Euphorie zur Breitwand erweitert. Eine zu ausgedachte Idee, die dem Film eher von seiner Wirkkraft nimmt: Wer die Außenränder des Bildes nicht beachtet, bringt auch das Zentrum nicht richtig zum Glühen. (Dominik Kamalzadeh aus Cannes, DER STANDARD, 24.5.2014)