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Stille Wut: Haluk Bilginer und Melisa Sözenin in Nuri Bilge Ceylans (unten) mit dem Hauptpreis prämierten "Winter Sleep", einem Drama über Selbsttäuschungen.

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Beim Sport nennt man das wohl einen Start-Ziel-Sieg: Nuri Bilge Ceylan hatte mit seinem über drei Stunden langen Film Winter Sleep (Kis Uykusu) schon zu Beginn des Festivals als einer der Favoriten gegolten. Die Goldene Palme war für den türkischen Filmemacher nur der nächste Schritt, nachdem er in Cannes bereits drei Preise geholt hatte (zuletzt Once Upon a Time in Anatolia, 2011).

Dabei ist Winter Sleep trotz epischer Länge kein opulenter Film, sondern ein Beispiel für Konzentration: Viele Szenen bestehen aus Dialogen, mit denen er die Gefühlslagen und Haltungen, das Verhältnis der Figuren zueinander in kleinen Manövern ins Taumeln bringt. Ceylan erzählt von einem Schauspieler, seiner Frau und seiner Schwester, die ein Hotel in Kappadokien führen. Tschechow war das Vorbild für die Feinarbeit, mit der er die Selbstgefälligkeit und Tatenlosigkeit dieses Mannes durchleuchtet.

Wie präzise und nuancenreich er das Unbehagen an zu lange eingenommenen Posen auslotet, das hat die Selbstverständlichkeit eines gelassenen Meisters. Die Unrast versteckt sich zwischen den Sätzen, in Ausflüchten, bangen Blicken und energischen Gesten; sie hallt wider in den matt erleuchteten Räumen, aus denen nie die Winterkälte entweicht.

Im Wettbewerb der 67. Ausgabe des Festivals stach Ceylan unter jenen Regisseuren hervor, die ihren Stil über die Jahre hinweg verfeinern konnten. Ceylan verknappt, wo manch anderer Regisseur es mit seiner Saturiertheit übertreibt: Der mit dem Drehbuchpreis prämierte Russe Andrej Swjaginew etwa, der in Leviathan eine Fabel vom Aufstand eines störrischen Mannes gegen einen Bürgermeister entwirft.

In der ersten Hälfte ein mit Übersicht und Humor aufgefächertes Drama - ja, der Russe trinkt viel und ausdauernd -, streckt sich der Film danach immer schwerfälliger nach biblischen Sinnbildern. Ein Walskelett am Strand - es dient auch als treffliches Bild für diesen "weißen Wal" von einem Film. Jeder Zentimeter der Leinwand versucht preiswürdig zu sein, so ähnlich hat es der US-Filmkritiker Manny Farber einmal formuliert.

Aufbruch und Meisterklasse

Cannes hat ein gewisses Faible für das Prinzip der Meisterklassen, zu denen man dann lebenslang dazugehört. In der Gegenüberstellung unterschiedlicher Generationen hat man der Unbeweglichkeit dieses Konzepts diesmal etwas entgegengewirkt. Die Jury unter Jane Campion honorierte es mit einem gesplitteten Preis: Mommy vom 25-jährigen Kanadier Xavier Dolan, ein ungestümes Mutter-Sohn-Drama, wurde gemeinsam mit Jean-Luc Godards 3-D-Film Adieu auf langage ausgezeichnet. Der eine presst das Kino ins Format eines Smartphones; der andere zerlegt es weiter und kommt auf den Hund, um die Dinge neu zu betrachten.

An Perspektivwechseln und überraschenden Stilbrüchen waren aber auch Olivier Assayas' Juliette-Binoche-Drama Clouds of Sils Maria und Bertrand Bonellos Mode-Kunst-Parcours, Saint Laurent, interessiert, zwei der am meisten risikobereiten Arbeiten in einem insgesamt starken Wettbewerb, die leer ausgingen.

Dafür gewann die Italienerin Alice Rohrwacher mit ihrem erst zweiten Film, Le meraviglie (Die Wunder), den Großen Preis der Jury: So schön das Statement für ein leises, introvertiertes Erzählen ist, die Arbeit wirkte etwas unfokussiert. Rohrwachers Film über eine Familie, die weit außerhalb gesellschaftlicher Normen lebt und Bio-Honig produziert, heftete sich allerdings visuell im Gedächtnis fest: Kinder mit seltsamen Kunstfertigkeiten, Lichtfluten durch Mauerwerk, eine Höhle mit Monica Bellucci als märchenhafter TV-Prinzessin.

Drei der besten Arbeiten des Festivals gab es auf Parallelschienen zu sehen. Sergei Loznitsas Dokumentarfilm Maïdan, der als Séance speciale lief, weist über alles Metaphorische hinaus. Es ist ein Film über den historischen Moment, über Geschichte in actu.

Von November 2013 an begleitete der ukrainische Regisseur die Revolution in seinem Land mit einem kleinen Team. Die Kamera ist wie ein Monolith auf dem Platz von Kiew platziert. Es gibt weder Schwenks noch Zooms, auch keine Interviews. Nur einmal, beim Einsatz von Tränengas, muss der Kameramann die Position verlassen. Die Dynamik auf den Straßen vermittelt sich dennoch auf dramatische Weise: In den Einstellungen passiert stets vieles zugleich, immer wieder entdeckt man neue Details; der Epilog ist bereits ein Heldenrequiem auf die Gefallenen.

Die beiden Filme, die den Wettbewerb auf jeden Fall bereichert hätten, waren Ruben Ostlünds Turist, eine bestechend originelle Fallstudie über ein Paar im regulierten Gefahrengelände eines Nobelskihotels; sowie Lisandro Alonsos Jauja, in dem Viggo Mortensen als dänischer Soldat des 19. Jahrhunderts durch surreale patagonische Landschaften zieht. In diesen kleiner dimensionierten Filmen ist nicht die Konstruktion so entscheidend, die etablierte Sichtweisen bestätigt, sondern die Suche nach einem Bild, das neue Zusammenhänge schafft: wie die Drone in Turist , die völlig unvermittelt in ein Gespräch rast und ein Kino wild pumpender Herzen hinterlässt. (Dominik Kamalzadeh aus Cannes, DER STANDARD, 26.5.2014)