Die wundersame Mutation einer "Möwe": das Theater "Schule für dramatische Kunst" in Wien.

Foto: Cheban

Wien - 35 Meter Länge misst der schwarze Steg in der Halle E des Wiener Museumsquartiers. Auf ihm findet bequem Platz, was Anton Tschechow während seiner bedrückend kurzen Lebenszeit durch den Kopf gerauscht ist.

In den sechs großen Theaterstücken des Autors wimmelt es nur so von albernen Figuren. Jede von ihnen empfindet undeutlich, dass es so, wie es ist, mit ihrem Leben nicht weitergehen kann. Sonst passiert nicht viel Bahnbrechendes. Gelegentlich, aus nicht immer ganz geklärten Gründen, fällt ein einzelner Schuss. Dann hat sich ein ehemals hoffnungsvoller Mensch soeben selbst den Garaus gemacht. Die anderen Figuren machen einfach weiter, als hätten sie den Knall überhört.

Etwas vom herrlichen Mutwillen der Tschechow'schen Einfälle hat auch Tararabumbia. So nennt sich eine Bilderrevue von Regisseur Dmitry Krymov, die noch heute Abend im Rahmen der Wiener Festwochen zu sehen ist. Sie zehrt von Tschechows Ideen.

Zugleich spinnt sie sie auch locker weiter. Vor allem zwingt sie 38 Menschen auf den Laufsteg. Eine Militärkapelle in warmen Filzmänteln spielt zum Marsch auf. Erscheint eine Figur wie der liederliche Dichter Trigorin (aus Tschechows Die Möwe), so tut er das in zweiundzwanzigfacher Ausfertigung. Trigorin hat Strohhut und Angelrute dabei und bildet mit sich selbst eine Kolonne.

Man begegnet den Drei Schwestern, die in der Provinz zu versauern drohen und daher nur einen Wunsch inständig hegen: "Nach Moskau!" Krymov hat den zirpenden, anmutigen Damen eine lebensgroße Puppe mit auf den Weg gegeben. Andrjuscha, der Bruder, ist der ganze Stolz der welken Mauerblumen. Leider fällt die Puppe unter hässlichen Blähgeräuschen in sich zusammen.

Die Theaterrevue Tararabumbia leidet überhaupt ein wenig an Kurzatmigkeit. Kaum hat sich der Blick auf ein Detail geheftet, da jagt das Förderband der russischen Geschichte schon wieder weiter. Missratene Söhne bilden das tragische Hauptpersonal. Ihr berühmtester heißt Trepljow. Der stammt aus der nämlichen Möwe, die für die "Handlung" des kurzen Abends den deutlich größten Nährwert abwirft.

Für die Zähmung des armen Vogels ist Krymov nichts zu teuer. Zwei glasverkleidete Pavillons ziehen vorüber. Lampen mit kostbaren Schirmen hängen neben den (im vierten Akt der Möwe) Lotto spielenden Figuren. Im kleineren der Gehäuse spritzt das Blut ans Fenster. Es scheint, als würde die Geschichte Russlands im Kopf des Selbstmörders Trepljow immer wieder explodieren.

Am laufenden Band

Die Protagonisten dieses allegorischen Theaters sind zur Wiederholung ihrer Untaten wie zum Trotz verurteilt. Sie rollen auf dem laufenden Band der Geschichte in die Sowjetzeit hinüber. Manchmal, Gott sei Dank nicht zu häufig, versteigt sich Tararabumba auch zu Albernheiten. Dann begegnet einem eine Abordnung des Bolschoitheaters. Vertreter beider Geschlechter tragen Tutus und Spitzenschuhe.

Taucher in fantastischen Glocken machen den Steg unsicher. Ein silberglänzender Aal wird von depressiven Leichtmatrosen zur Schau gestellt. Die Möwe selbst ist eine kreischende Braut unterm Schleier. Ein Umzug von weißen Herren mit Zylinder nimmt den toten Tschechow als Leiche in Empfang. Ein Waggon mit der Aufschrift "Austern" folgt dem Lauf der Schienen in den Gulag.

Immer dann, wenn das Interesse zu erlahmen droht, tauchen aufs Neue die Gespensterfiguren aus der Möwe auf. Eine Gruppe von Hamlet-Schauspielern genießt wie selbstverständlich Gastrecht in dieser Dramenzentrifuge. Der Schleudergang währt 75 Minuten. Danach fühlt man sich erquickt und porentief rein. Die Möwen-Premiere morgen im Wiener Akademietheater kann getrost kommen. (Ronald Pohl, DER STANDARD, 30.5.2014)