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Synchron vertanzte Lebensfreude von Justin Timberlake in der Wiener Stadthalle.

Foto: APA/HERBERT PFARRHOFER

Wien - Am Anfang ist erst einmal gar nichts. Weil wenn auf einem Plakat Beginn 19.30 Uhr steht, beginnt das Konzert selbstverständlich erst kurz vor 21 Uhr. Inzwischen kann man sich als Frau körperbetonte Leibchen kaufen, auf denen "Liebe" auf Englisch steht. Es gibt auch Slips mit einem "Sexy Back"-Aufdruck in der Pogegend. Das ist ein doppeldeutiges Wortspiel und sehr lustig.

Männer sind beim Konzert von Justin Timberlake auch vor Ort. Sie kaufen aber sicher keine T-Shirts, weil sie sonst von ihren Freunden ausgelacht werden würden. Man muss überhaupt sehr aufpassen, dass man im Saal keinen fremden Mann anrempelt oder länger als eine Viertelsekunde schief ansieht. Die Männer im Publikum haben heute nämlich starke Gefühle. Sie mussten mit der Freundin zu dieser Veranstaltung gehen. Die Gabi stellt Selfies von sich und Kurti ins Netz. Kurti muss lächeln. Innerlich zerreißt es ihn. Morgen in der Arbeit werden sie sich lustig machen. Wenn mich jetzt einer deppert anrempelt, hat er eine Watsche, dass es raucht, denkt sich Kurti.

Die Bühne ist noch komplett leer. Dann sieht man wie aus dem Nichts Zahnräder auf der Multimedia-Wand im Hintergrund. Sie drehen sich, sie fliegen zusammen, greifen ineinander. Sie ziehen jetzt an einem Strang. Sie sind eine Maschine. Kolben pumpen. Schemen eines Streichorchesters in VW-Bus-Größe produzieren dramatische Cinemascope-Töne. Der Justin fährt nun aus dem Bühnenboden empor. Gut, dass im Saal keine Trinkgefäße aus Glas erlaubt sind. Sie würden zerspringen. So ein Kreischen hat das letzte Mal Paul McCartney gehört, als er vor fast 50 Jahren das erste Mal in Amerika aus dem Flugzeug gestiegen ist. Das war damals die Beatlemania. Wir reden hier also von einem wirklich mächtigen Kreischen. Jetzt bloß nicht bei Kurti anstreifen!

Der Justin ist jetzt total überrascht, dass er so stürmisch empfangen wird. Das ist ihm noch nie passiert. Er greift sich ans Herz und sagt, dass er uns liebt. Die Big Band ist mit Lastenaufzügen auch aus dem Keller hochgefahren gekommen. Der Viervierteltakt setzt ein. Der Bass findet den Weg in 14.000 Magengruben. Kurti spürt, dass er seit Mittag nichts gegessen hat. Er geht sich ein Getränk holen.

Es ist sehr sexuell

Der Justin singt über die Liebe puschen und den Körper rocken. Wir sollen ihm geben, wovon er nicht weiß, dass er es will. Es ist sehr sexuell, aber nicht so stark sexy wie bei seinen früheren Kolleginnen Britney Spears und Christina Aguilera aus dem Disneyclub. Warum gibt es eigentlich keine Männer in Latex, die sich bei ihren Konzerten auf Erotikkreuze schnallen lassen, damit sie für ihre Missetaten ordentlich zärtlich durchgehauen werden? Man merkt schon, Justin singt zwar thematisch stark gebunden von körperlicher Liebe, aber er macht das mehr im theoretischen Sinn. Er sündigt lieber in Gedanken als auf der Streckbank. Justin trägt Anzug. Er ist der Aufsichtsrat der Liebe.

Sommerliebe, von der Liebe eingeraucht, heiliger Gral. Auf der Multimediawand spielt es Granada. Zukunft, Sex, Liebe, Sounds steht da zu lesen. Dazwischen Zahnräder, Kolben, Frauen in schöner Unterwäsche. Wenn der Bass besonders tiefe Töne spielt und der Justin den Hip-Hop rhythm-’n’-bluesen tut, hält es ihn oft nicht mehr. Gemeinsam mit seinen sechs, sieben besten Freunden und Freundinnen macht er auf der Bühne Party. Er muss seine Lebensfreude synchron vertanzen. Das sieht so ähnlich aus, wie wenn Michael Jackson die Finger in die Steckdose halten würde. Aber Michael Jackson ist heut zu acht oder zu neunt. Es boybandelt, dass einem schwindlig wird. Heutzutage braucht man diese Hektik aber, weil die Aufmerksamkeitsspannen immer kleiner werden. Ja, auch in den Social Media ist Krise. Wörter einsparen, Inhalte einsparen, wegwischen. Next song, please. #Wirtschaft hängt mit allem zusammen. (Das Kreuz da vorne ist Absicht, das ist ein "Hashtag". LOL.)

Justin Timberlake wurde 1981 in Memphis, Tennessee, geboren. Er hat nicht nur den Soul und beschäftigt hauptsächlich afroamerikanische Mitarbeiter aus der einstigen Deep-Soul-Metropole in seiner Band. Der Justin singt im Mittelteil, auf der B-Bühne im Saal, auf der er seinen Fans besonders nah ist, auch den Blues von Elvis Presley im Heartbreak Hotel. Das ist total intensiv. Human Nature von Michael Jackson ist auch fällig. Kurti ist jetzt draußen eine rauchen, oder auch zwei. Endlich kann man sich also einmal in aller Ruhe umschauen im Saal. Im Umkreis von 200 Kilometern haben heute alle Nagelstudios und Haarkreationisten-Boutiquen schon zu Mittag zugesperrt, so viel ist sicher. Trotz aller Spliss-Warnungen von Heidi Klum in "Germany's Next Topmodel" ist die Farbe Platinblond noch immer sehr beliebt. Es gibt Stöckelschuhe mit sehr hohen Stöckeln. Wenn etwas drei Zentimeter breiter als ein Gürtel ist, nennt man das Rock. Super Abend. (Christian Schachinger, derStandard.at, 5.6.2014)