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Zuhören ist Arbeit und macht nur dann Sinn, wenn man nicht nur die Ohren, sondern auch das Herz weit öffnet für das, was einem erzählt wird.

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Susanne Scholl ist Journalistin und Schriftstellerin. Sie war als Korrespondentin für den ORF u. a. in Moskau tätig und berichtete regelmäßig aus Tschetschenien. Ihr Roman "Emma schweigt" ist Anfang 2014 im Residenz- Verlag erschienen.

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Als ich in Italien studierte - vor sehr vielen Jahren -, geschah manch Seltsames. Im Erdgeschoß des Hauses, in dem ich wohnte, war eine Bäckerei. Wenn ich spät nach Hause kam, gab es dort die besten Butterkipferln der Welt, frisch aus dem Backofen. Und wenn im Haus das Licht ausfiel, begleitete mich der Bäcker freundlich bis zu meiner Wohnung. Wir waren Freunde. Trotzdem nannte mich der, der mir immer Kipferln schenkte, liebevoll "Tedescaccia" - was man nur mit "sch... Deutsche" übersetzen kann, und hob die Hand zum Hitlergruß, sobald er meiner ansichtig wurde.

Ich habe nicht versucht, ihm zu erklären, dass ich erstens Österreicherin und zweitens Jüdin bin. Er kannte mein Auto mit Wiener Kennzeichen und hatte all das aus seinem Gedächtnis hervorgekramt, was ihm im Lauf der Zeit im Zusammenhang mit Deutsch sprechenden Menschen untergekommen war. Nachgedacht hatte er nicht. Meine italienischen Freunde lachten über den Mann und fanden, ich sei empfindlich, wenn ich mich über den Gruß und die Anrede beschwerte.

Als meine Tochter in Paris studierte - vor gar nicht so vielen Jahren -, geschah ebenfalls manch Seltsames. Wenn sie sagte, dass sie Österreicherin sei, fragte man sie, wieso sie Französisch wie eine Französin spreche. Wenn sie sagte, dass sie eine französische Schule besucht habe, fragte man sie, wieso. Wenn sie erzählte, dass ihre Mutter als Korrespondentin in Moskau gearbeitet und sie deshalb dort die französische Schule besucht habe, warf man ihr vor, sich nur wichtigzumachen.

Anders sein ist wunderbar. Anders sein heißt Erfahrungen haben, die den anderen fehlen. Das macht die, denen diese Erfahrungen fehlen, wütend. Würden sie zuhören, würden sie von den Erfahrungen der "anderen" lernen. Aber Zuhören ist die schwierigste Sache der Welt.

Damals in Italien hatte ich eine Freundin, die auch ein bisschen anders war. Ihr Vater war Italiener, aber ihre Mutter war Tschechin. Weshalb sie von den gleichen Süßspeisen schwärmte wie ich. Von Marillen- und Zwetschkenknödeln zum Beispiel. Unsere italienischen Freundinnen verzogen angewidert die Nase, wenn wir davon erzählten. Obst im Teig? Wie grässlich ... Wir hätten sie einladen, sie unsere Lieblingsknödel kosten lassen sollen. Was wir natürlich auch deshalb nicht taten, weil wir beide damals nicht kochen konnten. Aber sie haben uns gar nicht zugehört, wenn wir über Prag oder Wien sprachen. Sie wollten das alles gar nicht wissen.

Ich muss gestehen, dass ich selbst manchmal auch nicht genau hinhöre. Als meine Kinder im zarten Alter von fünf Jahren in die obenerwähnte französische Schule kamen, war in ihrer Klasse die ganze Welt versammelt. Darunter auch viele Kinder aus Afrika. Manchmal kamen meine Zwillinge nach Hause und erzählten über den einen oder anderen Schulkollegen, er sei "schlimm" gewesen. Sie sagten nie, "die schwarzen Kinder", wenn sie die afrikanischen Schulkollegen meinten, sie sagten "die Kinder mit den schwarzen Haaren". Auch meine Kinder sind mit dichtem schwarzem Haar gesegnet. Damals habe ich nicht nachgefragt, heute denke ich manchmal, ob sie vielleicht damals von sich selbst gesprochen haben, dass sie schlimm waren in der Schule.

Schwere Erbschaft

Ich komme aus einer jüdischen Familie und habe daher eine schwere Erbschaft zu tragen. Von meiner frühesten Kindheit an war ich mit den Erzählungen über Verfolgung, Erniedrigung, Angst, Flucht und Mord konfrontiert. In meiner Familie wurde - im Gegensatz zu vielen anderen Familien - viel über diese Zeit gesprochen. Wir Kinder wussten, wie unsere Großeltern ermordet worden waren. Jahrelang habe ich davon geträumt, dass man uns holen kommt. Trotzdem habe ich erst sehr viel später wirklich verstanden, was meinen Großeltern und allen anderen Ermordeten angetan wurde. Erst als ich in das Alter kam, in dem meine Großeltern ermordet wurden, begann ich mit dem Gefühl zu begreifen, wie das gewesen sein musste.

Zuhören ist Arbeit und macht nur dann Sinn, wenn man nicht nur die Ohren, sondern auch den Kopf, den Bauch und das Herz weit öffnet für das, was einem erzählt wird. Wenn man versucht, sich vorzustellen, wie es wäre, das durchzumachen, was der Erzähler, die Erzählerin durchgemacht haben oder durchmachen. Manchmal bedeutet Zuhören auch herausfinden, was der andere sagen will, ohne es sagen zu können.

Zuhören sollte auch mitfühlen heißen. Ich meine damit nicht Mitleid - diese Art von oben herab gewährter Bereitschaft, den anderen zu bedauern. Das hilft niemandem. Mitfühlen dagegen schon. Sich mit dem Gefühl auf andere, "Fremde" einlassen können ist wichtig, denn was man sich nicht vorstellen kann, existiert irgendwie auch nicht wirklich.

Sich gegenseitig "wirklich" zuhören bewirkt, dass das "Fremde" plötzlich gar nicht mehr so fremd ist. Wenn man genau zuhört, entdeckt man, dass vieles, was uns "fremd" und ungemütlich ist, gar nicht so "anders" ist. Dass wir alle viel mehr gemein haben, als uns trennt. Dass unsre Ängste ähnliche sind und auch die Dinge, die uns Freude bereiten, gar nicht so weit auseinanderliegen.

Manchmal, wenn ich Geschichten von Freunden zuhöre, die aus Ländern kommen, in denen gerade wieder einmal Menschen auf Menschen schießen und einander entsetzliche Dinge antun, denke ich, dass ich vielleicht nicht ihre Kraft gehabt hätte, um mein und das Leben meiner Liebsten zu kämpfen.

Was sie erzählen, macht mir meine eigenen Grenzen deutlich - und das ist eine große Chance. Denn manchmal kann es helfen, ebendiese Grenzen zu überschreiten. Zuhören hilft auch, sich selbst besser zu verstehen.

Ich bin ein neugieriger Mensch. Deshalb höre ich gerne zu und lese gerne die Geschichten der anderen. Auf diese Weise ist mein Leben sehr viel bunter. (Susanne Scholl, Album, DER STANDARD, 7./8./9.6.2014)