Wien – Eigentlich hätte Maurizio Pollini da sitzen sollen. Doch der Mailänder stürzte am Sonntag auf dem Flughafen seiner Heimatstadt, kam dennoch nach Wien, spielte sich tags darauf bis Mittag ein – und musste sich schließlich zur Absage seines Klavierabends durchringen. Um 14 Uhr wurde Igor Levit angerufen, um 18.30 Uhr kam er in Schwechat an – eine Stunde später war der 27-Jährige im Goldenen Saal.

Bereits die ersten vier Takte von Beethovens As-Dur-Sonate op. 110 machten klar, dass der gebürtige Russe, der in Salzburg und Hannover studierte, eine Klasse für sich ist. Das begann mit einer Klanggebung voller Balance und Spannkraft und hörte bei kantablem Legato, bezwingender Linienführung und Phrasenbildung noch lange nicht auf. Levit hat den späten Beethoven tatsächlich durchdrungen (wie auch seine Aufnahme der letzten fünf Sonaten bei Sony beweist) und mit einem Reichtum an Ausdruck versehen, der jeder (so kurzen) Beschreibung spottet.

Hier wie auch in der c-Moll-Sonate op. 111 zeigte er Subtilität und Dramatik, Ernsthaftigkeit und Spielfreude, entwickelte die emotional-formale Wunderkammer beider Werke gleichermaßen schlüssig wie persönlich: ein Pianist, mit dem man künftig zu rechnen haben wird.

Levit könnte leicht die Laufbahn des blendenden Virtuosen wählen. Dass er aber ein anderes Interesse hat, zeigte er nicht nur mit Beethoven, sondern insbesondere im zweiten Teil, den er dem Zeitgenossen Frederic Rzewski widmete (was Thomas Angyan veranlasste, das Publikum zu bitten, dennoch da zu bleiben).

Da griff der Pianist zunächst zum Mikrofon, um die Geschichte des Werks The People United Will Never Be Defeated! (1975) nach dem chilenischen Freiheitslied ¡El pueblo unido, jamás será vencido! zu erzählen. Anschließend spielte er die Variationen, die ein Panoptikum von Volkstümlichkeit über Modernismen bis zu einer seriellen Tonsprache mit atemberaubenden technischen Anforderungen verbindet, mit Hingabe und Vollendung verbindet. Es gibt eben nur Musik – „alt“ oder „neu“ spielt keine Rolle. Diese Botschaft ist am Montag auch in Wien ein wenig angekommen – ein großes Zeichen und ein kleines Wunder. (Daniel Ender, DER STANDARD, 18./19.6.2014)