Mit der Ausrufung eines "Kalifats" wollen die Jihadisten der Isis - die sich gleichzeitig in IS, also "Islamischer Staat" ohne geografische Spezifikation umbenannt hat - eine immer wieder am Horizont auftauchende Fata Morgana des politischen Islam packen und festhalten. Seitdem die türkische Republik diese Institution im März 1924 abgeschafft hat, die zuvor beim osmanischen Sultan lag, träumen islamische Revisionisten davon, die sunnitische islamische Welt wieder unter diesem Dach zu vereinen - als ob sie das je wirklich gewesen wäre. Manchmal waren aber auch Nichtislamisten interessiert, wie etwa die ägyptischen Könige Fuad und Faruk in den 1920er- und 1930er-Jahren, die sich gerne mit dem Titel geschmückt hätten.

Die IS, die den Ramadan-Beginn für ihre Proklamation und Umbenennung wählte, setzt damit ganz präzise Botschaften an unterschiedliche Adressaten ab. Erstens, natürlich nur aus ihrer eigenen Perspektive, an alle Muslime und Musliminnen: Der "Islamische Staat" und das "Kalifat" sind keine Konzepte, die an ein präzis definiertes Territorium gebunden sind. Sie gelten für alle. Es ist schwer zu sagen, wie sehr der selbsternannte Kalif, Abu Bakr al-Baghdadi vulgo Ibrahim Awad al-Badri - deshalb "Kalif Ibrahim" -, selbst an die Wirkungsmächtigkeit dieser Botschaft glaubt. Denn sie stößt ja schon in dem Territorium, das er hält, an ihre Grenzen.

Die Proklamation ist deshalb zweifellos auch ein Versuch, gegenüber den Konkurrenten in der sunnitischen Allianz, die im Irak gegen die Regierung kämpft, Tatsachen zu schaffen. Da sind erst einmal die anderen lokalen islamistischen Gruppen, ihnen wird gezeigt, wer der Herr ist. Und nur wenige Tage nach dem Fall Mossuls begannen auch die ersten Spannungen zwischen den Jihadisten und den Altbaathisten der JRTN (Armee der Männer des Naqshbandiya-Ordens) sowie den Stämmen, die auch noch andere als islamische Hackordnungen haben.

Der gemeinsame Gegner aller ist die Regierung in Bagdad. Aber es gibt im Grunde genommen nicht einmal ein gemeinsames Ziel. Die irakischen Sunniten - fast alle außer den Jihadisten - wollen die Behörden aus den Territorien, die sie erobern und halten können, vertreiben. Sie wollen keine große utopische Idee wie das Kalifat, sie wollen keinen islamischen Staat, sie wollen Selbstverwaltung.

Der Wegfall von "Irak und Großsyrien" im Namen der Isis ist aber auch noch eine Art Vollzugsmeldung nach außen. Das Konzept "Irak" wird nicht mehr gebraucht, und schon gar nicht, um es vom Raum "Großsyrien" zu differenzieren: Das heißt, die erste der sogenannten Sykes-Picot-Grenzen ist weg, die von den Briten und Franzosen nach dem Ersten Weltkrieg gezogen wurden - wobei die Verhandlungen schon 1916 begannen, zwischen den Diplomaten Mark Sykes und François Georges-Picot (und damals war übrigens auch noch das zaristische Russland dabei).

Für die IS-Jihadisten gibt es auch kein Jordanien, kein Saudi-Arabien, von Israel ganz zu schweigen. Aber wenn "Kalif Ibrahim" wirklich der Intellektuelle ist, als den ihn seine Anhänger bezeichnen, dann weiß er auch, dass das alles im Grunde nur ein PR-Gag sein kann. Es ist richtig, dass Syrien und Irak Zerfallserscheinungen zeigen. Aber auch der neue Islamische Staat wird wohl über den Zustand einzelner islamischer Bantustans nie hinauskommen. (Gudrun Harrer, DER STANDARD, 1.7.2014)