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Spiel mit dem Feuer des Irrationalismus: Peter Sloterdijk stellt mit beispielloser Wortgewalt die Zusammenhänge von Fortschrittssicherung und Vernunftgebrauch infrage.

Foto: reuters / THOMAS PETER

Wien - Das Leitwort in Peter Sloterdijks neuem Großessay stammt ausgerechnet von einer Mätresse. Es blieb Madame de Pompadour vorbehalten, 1757 auf Schloss Fontainebleau die Nachricht vom für Frankreich katastrophalen Ausgang einer Schlacht entgegenzunehmen. Die einflussreiche Geliebte von Louis XV. war beispielhaft um die Laune ihrer Mitmenschen besorgt. Als gute Gastgeberin kommentierte sie die Katastrophe mit dem berühmten Ausspruch: "Nach uns die Sintflut!"

Sloterdijks (67) Faszination für diese Bekundung von Witz am falschen Platz erstaunt nur auf den ersten Blick. Als Philosoph ist der in Karlsruhe Lehrende seit langem ein routinierter Redakteur und genüsslicher Absender schlechter Nachrichten. In Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, seinem neuen Welterklärungsversuch, rückt Sloterdijk wortgewaltig der Vorstellung zu Leibe, wir Menschen wären als späte Vertreter der Moderne das, was wir aus uns gemacht hätten. Dazu sitzt das Band, das die Generationen miteinander verbindet, eindeutig zu locker.

Sloterdijks Denkfigur bezieht ihre Überzeugungskraft aus anderen Suggestionen. Die Weitergabe der Erbsünde erinnert den Menschen an sein Los, sich in Erbangelegenheiten zu verstricken, ob er das nun möchte oder nicht. Gemeint ist vor allem die Übertragung von symbolischen Gütern, deren Gebrauch dem Menschenkind hilft, sich in der Welt zu orientieren.

Bruch mit der Vorzeit

Unwillkürlich bleibt der gehorsame Abkömmling in der Illusion befangen, die wichtigen Ereignisse hätten immer schon vor seiner Lebenszeit stattgefunden. Der "Bruch" mit der Vorzeit - Sloterdijk nennt ihn Hiatus - besteht in der Weigerung, sich von Altvorderen die Verbindlichkeit der von ihnen geäußerten Ansichten diktieren zu lassen.

Diesen nicht weiter tragischen Befund erhebt Sloterdijk zum Mysterium. Er macht sich den Ekel zu eigen, den einige Konservative empfanden, als sie glaubten, den Ausbruch der Französischen Revolution dem Teufel in die Schuhe schieben zu müssen. Das Köpfen eines Königs nimmt sich in der Tat als höchst deutlicher Einspruch gegen überkommene Werte aus. Prompt landet Sloterdijk beim Kronzeugen jeder konservativen Kulturkritik, dem unvermeidlichen Friedrich Nietzsche. Dieser stellte in der Fröhlichen Wissenschaft von 1882 die Frage des "Tollen Menschen": "Stürzen wir nicht fortwährend?"

Was wir uns angewöhnt haben, Fortschritt zu nennen, soll nichts anderes sein als das Gefühl, die Balance zu verlieren. Fortan lebt der Mensch in der Einbildung, er würde die eigene Sache am besten betreiben, indem er sich kopfüber in ein Geschehen stürzt, das ihm unbegreiflich bleibt.

Immer klarer wird, warum die Erbengemeinschaft des Frankfurter Instituts für Sozialforschung, voran Jürgen Habermas, den "Emporkömmling" Sloterdijk mit wütender Inbrunst ablehnt. Das "anti-genealogische Experiment der Moderne", so der Untertitel des neuen Buchs, enthält das Hohngelächter seines Autors.

Für Sloterdijk scheint die Vorstellung undenkbar, Verhältnisse, wie wir sie tagtäglich vorfinden, könnten früher oder später stabil erscheinen. Die Erfolgsaussichten von vernünftiger Verständigung erscheinen ihm gering. Wo die Vernunft Strukturen aufrichtet, um Errungenschaften Dauer zu sichern, da setzt sich ein Zug von Illegitimen und "Bastarden" in Bewegung, um das Erreichte zu beseitigen. Dadurch werden Energien freigesetzt, deren Effekte man kaum konstruktiv nennen kann.

Jesuanische Pointe

Eine der besten Pointen in Die schrecklichen Kinder der Neuzeit besteht in Sloterdijks Referat Jesu Christi. Nachdem der Autor ausführlich Figuren wie Lenin seine Reverenz erwiesen hat, kommt er auf den Zimmermannssohn zu sprechen. Jesus habe den Bruch zum Prinzip der Tradierung selbst gemacht. Mit seiner Reklamation eines nichtfleischlichen Vaters im Himmel findet ein Umbeseelungsvorgang statt. Fortan kann jeder Mensch, der an der jesuanischen Ekstase teilhat, von Vater und Mutter getrost absehen.

Man ist geneigt zu sagen: Die Zeche zahlt, wer sich dazu durchgerungen hat, in der Heiligen Familie ein Papa zum Angreifen zu sein. Ein brillantes Buch, das man bedenklich nennen kann. (Ronald Pohl, DER STANDARD, 17.7.2014)