Europa fällt von ihrem bockenden Stier: Mit diesem Bild kommentierte das britische Wochenmagazin The Economist die Wahl zum Europäischen Parlament. Abgeworfen wird Europa durch die Wahlsiege antieuropäischer Parteien, die dramatisch geringe Wahlbeteiligung und die Tatsache, dass die Idee der europäischen Parteienfamilien, mit Spitzenkandidaten in den Wahlkampf zu ziehen, die Wähler nicht überzeugt habe.

Doch sind all diese Befunde zu relativieren: Weder waren die Antieuropäer überall erfolgreich, noch führten ihre Stimmen zur Fraktionsbildung im EP - Nationalismus ist eben eine kaum überwindbare Hürde; die Wahlbeteiligung ist verglichen mit nationalen Wahlen gering, aber gegenüber 2009 stabil, während sie seit den 1980er-Jahren in allen Mitgliedstaaten sinkt; und schließlich entfaltete sich in den vergangenen Wochen eine der heftigsten europäischen Debatten gerade um die Frage, ob Jean-Claude Juncker als Spitzenkandidat der Europäischen Volkspartei, der relativen Wahlsiegerin von 2014, nun im Europäischen Rat auch als Kommissionspräsident nominiert werden müsse oder ignoriert werden könne.

Juncker wurde am Dienstag gewählt. Das wird die Transparenz des traditionellen Bazars um die restlichen Führungspositionen, in dem Nationalitäten, Parteizugehörigkeiten und Genderfragen austariert werden müssen, nicht erhöhen, aber bei dieser einen Besetzung haben Wähler und Wählerinnen einen demokratischen Etappensieg davongetragen.

Ein solcher Etappensieg macht aber noch keinen europäischen Frühling. Eifersüchtig wachen die Staats- und Regierungschefs über ihre Macht und haben auch gleich ein strategisches Papier für die nächste Legislaturperiode vorgelegt. Darin sind alle Probleme von der hohen Arbeitslosigkeit über die Alterung der Gesellschaft bis zur Unabhängigkeit in der Energiefrage und zu einer starken außenpolitischen Rolle aufgezählt. Nicht fehlen durfte die rhetorische Zwillingsfigur von der Einheit und der Vielfalt, der Handlungsfähigkeit der Union und dem Subsidiaritätsprinzip. Die Agenda bietet keine neue Idee, stellt aber den neuerlichen Versuch der nationalen Regierungen dar, der unabhängigen Kommission ihr Programm zu diktieren.

Unter dem Titel "Eine Union der Arbeitsplätze, des Wachstums und der Wettbewerbsfähigkeit" liest man lange vorgetragene Versprechen: die Nutzung aller Potenziale des Binnenmarkts; die Schaffung eines unternehmerfreundlichen Klimas; die Vorbereitung "unserer Ökonomien" auf die Zukunft durch Investitionen in Transport, Energie- und Kommunikationsinfrastruktur wie auch in Forschung und Entwicklung durch existierende und neue Finanzinstrumente; die Stärkung der globalen Attraktivität der Union durch internationale Handelsverträge (inklusive TTIP), die bis 2015 abzuschließen sind.

Problem der Asymmetrie

Als Letztes taucht in dieser Liste die Konsolidierung der Wirtschafts- und Währungsunion auf. Dieser Punkt kommt so beiläufig daher, als wäre die Finanz- und Fiskalkrise nicht die größte Zerreißprobe der Union. Auffällig ist, dass in diesem Text von "den Ökonomien" die Rede ist. Was von Anbeginn der Währungsunion als Problem erkannt wurde, soll also auch in Zukunft fortbestehen: die Asymmetrie zwischen einer zentralisierten Geldpolitik und einer dezentralen Wirtschaftspolitik. Zwar folgt das Mantra über ein verstärktes europäisches Regieren und Koordinieren der nationalen Wirtschaftspolitiken, aber es gibt kein Wort über Vertiefungen, die das auch sicherstellen.

Nun ließe sich einwenden, dass mit den Maßnahmen innerhalb und außerhalb des Unionsrechts wahrlich genug Vorkehrungen zur Überwachung und Bestrafung von Schuldensündern geschaffen wurden, wäre da nicht der jüngste Kommissionsbericht zur Umsetzung dieser Vorgaben in den Mitgliedstaaten. Aus seiner Kritik an der Säumigkeit und Halbherzigkeit, mit der nahezu alle Staaten (auch Österreich und Deutschland) den Vereinbarungen zur "tugendhaften Budgetpolitik" nachkommen, lässt sich nur eines schließen: War man im Ausnahmezustand der Finanz- und Fiskalkrise zur schärfsten Austeritätspolitik bereit, so nimmt diese mit dem Schwinden der Krise zusehends ab.

Während manche Regierungen um die Flexibilisierung der Drei-Prozent-Defizit-Grenze feilschen, scheint die im Fiskalpakt verankerte 0,5-Prozent-Grenze für das strukturelle Defizit aus der Debatte überhaupt getilgt. Haben sich die Regierungen mit dem Fiskalpakt einfach überfordert und hoffen auf die Gnade des Vergessens?

Denn zurückgekehrt ist erwartungsgemäß der Streit um die "richtige" Fiskal- und Wirtschaftspolitik, der die Geschichte der Währungsunion von Anfang an begleitete. Es ist ein Streit um alternative Vorstellungen einer europäischen Wirtschafts- und Sozialordnung, die sich auch global behaupten kann. Man scheut sich ihn auszufechten und erstickt ihn im Dickicht des intergouvernementalen "Mehrebenenspiels". Man verkündet in Brüssel das eine und zu Hause das andere, und für alles Unpopuläre ist Brüssel verantwortlich.

Daraus wird kein neues Bild von Europa entstehen, das die Unterstützung breiter Bevölkerungsschichten gewinnen kann. Nichts verachten Bürger mehr als überforderte Eliten. Es ist daher zu hoffen, dass das neue Parlament und die neue Kommission dagegen eine klare und ambitionierte europäische Agenda vorlegen, mit der die einseitigen Machtansprüche der Regierungen ebenso wie der durch sie verordnete politische Stillstand überwunden werden können. (Sonja Puntscher Riekmann, DER STANDARD, 17.7.2014)