Dann sehen wir die Veranda. Die Treppe, der alte Tisch, an dem sitzend ich als Fünfjähriger die Legende vom Glutvogel höre, und die ganze Veranda sind mit Efeu zugewachsen.

Foto: Balkansky
Foto: Balkansky

Ich bin fünf. Ich sitze auf der Veranda von Tante Jasminas Haus. Ich kann die Adria zwischen Split und Sutivan sehen. Es ist Sommer. Eine Autofähre in der Ferne und ein Trabakul, das aus dem Hafen von Sutivan fährt, sind die einzigen Schiffe im Kanal von Brač. Ich kann den Wind hören, zwei Seemöwen, die wahrscheinlich um einen Fisch streiten, und die Stimme von Tante Jasmina, die mir die Geschichte vom Glutvogel erzählt.

Die Tochter des Kapitäns

Tante Jasmina ist keine meiner echten Tanten. Alle Frauen aus der Nachbarschaft sind Tanten, wenn man fünf ist. Aber Jasmina ist unter all diesen falschen Tanten die Besondere. Sie hat das Wissen von Legenden und Mythen der Slawen, weil sie eine gebildete Tante ist, eine Slawistin. Mit Diplom. Und der Gabe, diese Geschichten mir, dem Fünfjährigen, so zu erzählen, dass sich für mich eine neue, verzauberte und zauberhafte Dimension von Sutivan öffnet, ganz besonders von Tante Jasminas Garten.

Jasminas Vater ist ein Kapitän der Handelsmarine. Er sieht seine Tochter nur wenige Monate im Jahr aufwachsen. Doch nun, nachdem er die längste Zeit seines Lebens gischtige Horizonte, fremde Häfen und bärtige Männergesichter betrachtet hat, beschließt Kapitän Vjekoslav, seine Augen auf dem Grün der Insel Brač auszurasten. Als er das Haus baut, ist Tante Jasmina eine junge Frau, dem Ende ihres Studiums nahe. Doch damals, als der Kapitän für wenige Wochen im Jahr ihr Papa ist, zeigt er Jasmina den Polarstern und wie man ihn mithilfe des Großen Bären findet. Er zeigt ihr auch den Mars und den fernen Jupiter, der in manchen Nächten fast so hell ist wie die Venus.

Der Glutvogel

Als ich auf ihrer Veranda sitze, ist Kapitän Vjekoslav ein alter Mann und liegt meistens gemütlich in einer Hängematte hinter dem Haus, wo eine Palme guten Schatten macht. Jasmina reißt beim Erzählen immer die Augen auf, wenn eine dramatische Stelle kommt. Und es ist viel Drama dabei, weil der Glutvogel nicht einfach der Phönix der Slawen ist. Die Federn der Žar ptica leuchten golden und rot, eine einzige von ihnen kann einen ganzen Palast beleuchten. Und sie haben die Macht, das Schicksal ihres Besitzers zum Guten zu wenden, ihn aber gleichzeitig vor Entscheidungen zu stellen, die seinen Untergang bedeuten können.

Deswegen ist in jeder Variante der Legende von Žar ptica das erste Problem, in den Besitz einer Feder zu kommen, und das zweite Problem, anschließend die richtigen Entscheidungen zu treffen. Oft muss ein Prinz drei Aufgaben lösen, damit ihm der Glutvogel eine seiner Federn gibt. Oft ist dieser Prinz klug und vom Glück unterstützt, bis er eine Feder hat, scheitert aber im Umgang mit der Macht, die die Feder verleiht.

Manchmal bin ich abends auf der Veranda von Tante Jasmina. Dann zeigt mir Jasmina den Polarstern und wie man ihn mithilfe des Großen Bären findet. Sie zeigt mir auch den Mars und den fernen Jupiter, der in manchen Nächten fast so hell ist wie die Venus. Kapitän Vjekoslav stirbt eines Abends friedlich in seiner Hängematte, während am Horizont strahlend hell die Venus aufgeht.

Hinter dem Eisentor

Tante Jasmina lebt in der Schweiz. Dort übersetzt sie Texte von Kroatisch auf Deutsch und umgekehrt. Manchmal ist Literatur dabei, manchmal schreibt Jasmina selbst. Gedichte. Manchmal sind die Tage grau und lang, so wie die Texte, die sie abarbeiten muss. Dazwischen ist sie, so oft ihr Einkommen das erlaubt, in Sutivan. Meist allein, manchmal ist ein Mann dabei. Jasmina ist schön und sportlich. Auf dem Strand nimmt sie einen Anlauf ins Meer und krault dann weit hinaus, wo niemand schwimmt, liegt eine Weile auf dem Rücken und hört dem Rauschen des Kiesels auf dem Grund der Adria zu. Dann krault sie zurück.

Jasminas Garten beginnt bei einem kleinen eisernen Tor. Ein gewundener Betonpfad führt zum Haus. Links und rechts sind Palmen, Oleander, Rosmarin, Lavendel, Bougainvillea und andere Pflanzen, die ich aus Mangel an Wissen nur als Busch oder Strauch benennen kann. Der Betonpfad ist absichtlich gewunden, einfach weil das schöner ist und weil man erst nach mehreren Metern das Haus hinter den vielen Pflanzen sieht.

Lange Zeit ist Jasminas Haus das letzte bergan auf dem Hügel des heiligen Vinzenz. Dahinter ist nur der Pinienwald, der bis zur Kapelle am Gipfel reicht. Noch früher, bevor das Haus gebaut wird, ist hier ein Olivenhain. Einige dieser uralten Oliven sind nun Teil der Pflanzenmenagerie, die Jasmina nach dem Kraulen in der Adria so sorgsam um den gewundenen Betonpfad pflegt. Dann wird Tante Jasmina krank. Und nie wieder gesund.

Ein langer Abschied

In manchen Sommern ist Jasmina wieder in ihrem Garten. In manchen nicht. Ihre Krankheit ist langsam, nach periodischen Besserungen kommt sie tückischer zurück. Erst muss Jasmina ihre Gewohnheit aufgeben, mit Anlauf in die Adria zu tauchen. Bald geht sie mit einem Stock zum Strand und in den Garten, einige Sommer später mit einer Krücke, dann mit zwei. Immer mehr werden jene Sommer, in denen der Garten einsam bleibt.

Nun ist schon der vierte Sommer gekommen, der Tante Jasmina nicht in ihrem Garten sieht, der gewundene Pfad hinter dem Eisentor ist verwachsen. Und ich führe unseren fünfjährigen Sohn hinein. Wir machen große Schritte über Pflanzen, die wir nicht zertreten wollen. Andere schieben wir beiseite, um vorbeizukommen. Dann sehen wir die Veranda. Ihre Treppe, der alte Tisch, an dem sitzend ich als Fünfjähriger die Legende vom Glutvogel höre, und die ganze Veranda sind mit Efeu zugewachsen. Um hinaufzugelangen, müssen wir die Blätter zertreten. Dann sitzen wir auf der kleinen Mauer, die um die Veranda gebaut ist. Unter uns ist Jasminas Garten. Ich erzähle unserem Sohn von einem Prinzen, der zum Berg der Žar ptica aufbricht, um eine Feder in Besitz zu nehmen.

Am Abend liegen wir hinter unserem Haus auf der Betonplattform vor dem Kamin. Es ist ein mondloser Abend, und man kann die Sterne und die Milchstraße sehen. Ich zeige unserem Sohn den Polarstern und wie man ihn mithilfe des Großen Bären findet. Ich zeige ihm auch den Mars und den fernen Jupiter, der in manchen Nächten fast so hell ist wie die Venus.

Dann schläft er auf meiner Brust ein. (Bogumil Balkansky, daStandard.at, 24.7.2014)