Als sich zwei deutsche Politikwissenschafter von früheren Ministern über den Kanzlergebrauch der Richtlinienkompetenz informieren lassen wollten, wusste niemand von Entscheidungsfindung bzw. Konfliktlösung auf diesem Weg zu berichten. Werner Faymann hat keinen Grund, sehnsüchtig auf die saftige Nachbarswiese zu blicken, weil es sie nicht gibt: Hier wie dort findet sich eine Koordinations- und keine Kanzlerdemokratie. Das Regieren ist parteienstaatlich geprägt, Deutschland institutionell gesehen sogar zerklüftet - ein "grand coalition state". Das System Angela Merkel funktioniert, weil es diese Bedingungen akzeptiert und annimmt. Überhaupt gehört es zum Kernprogramm von Demokratie, die Macht Einzelner zurechtzustutzen.

Das gilt auch und besonders für die angelsächsischen Länder, in denen der politische Prozess stark auf die Person des Regierungschefs zugeschnitten ist: In Großbritannien wechseln sich Beispiele für "starke" und "schwache" Amtsinhaber ziemlich flott ab. Ähnliches gilt für den US-Präsidenten als Wahlmonarchen, der sich mächtigen Vetospielern im Kongress gegenübersieht und im Falle einer zweiten Amtszeit flugs zur "lame duck" verkommt.

Der Einfluss der Kanzler sowohl in Deutschland als auch in Österreich variierte ebenfalls stark: Man denke an Konrad Adenauer und Bruno Kreisky, die ihren Nachfolgern Ludwig Erhard und Fred Sinowatz als entscheidende Hypothek übergroße Schuhe hinterließen. Verfassungsrechtliche Bedingungen waren für dieses Auf und Ab in keiner Weise verantwortlich.

Einiges, aber nicht alles hängt von der verwirklichten Koalitionsform oder eben der Abwesenheit einer Koalitionsregierung ab. Klare Mehrheiten sind heutzutage jedoch einzig vermittels eines massiven mehrheitsfördernden Eingriffes in das Wahlrecht erzielbar. Bleibt es beim Verhältniswahlrecht, wird vermutlich nur noch eine Dreierkoalition überhaupt mehrheitsfähig sein.

Desaster Direktwahl

Auch eine solche Konstellation birgt Einflusspotenzial für den Regierungschef, allerdings auf bescheidenerem Niveau: Helmut Kohl verstand es meisterlich, seine Partner aus CSU und FDP gegeneinander auszuspielen und das Ergebnis zähen Ringens an seine eigenen Idealvorstellungen heranrücken zu lassen. Hingegen endeten Versuche, ein Vielparteiensystem durch die Direktwahl des Regierungschefs zu zähmen, ausnahmslos im Desaster (etwa in Israel).

Die Republik Österreich braucht vieles, aber bestimmt keinen zusätzlichen Machtpol im Kanzleramt. Das scheint trotz vorhandener Nachfrage nach "starken Männern" auch die Mehrheitsmeinung unter den Wählern zu sein und ist am Verbleib von Bundespräsidenten im machtpolitischen Sparmodus erkennbar: Schlüssig war der Wahlkampf Heinz Fischers, der 2004 - im Gegensatz zur schwarz-blauen Regierungskandidatin Benita Ferrero-Waldner - mit formvollendetem "Rollenverzicht" warb.

Frisch war damals die Erinnerung an den Ausgang der Führungskonkurrenz zwischen Thomas Klestil und Franz Vranitzky zur Mitte der 1990er-Jahre: Die Amtsautorität des Bewohners der Hofburg war nachhaltig beschädigt worden.

Dass der jüngste Vorschlag einer verfassungsrechtlichen Stärkung des Regierungschefs vom Chef der liberalen Neos, Matthias Strolz, kam, muss ebenso verwundern wie die signalisierte Zustimmung der Grünen als Partei mit basisdemokratischen Wurzeln.

Dabei lässt Strolz den Blick weit über das Amt des Kanzlers hinaus schweifen. Seine Vorschläge verkennen jedoch, dass sich politische Macht in der Demokratie nicht vermehren lässt und Umschichtungen im Zeichen eines Nullsummenspieles erfolgen.

Einfach fällt ihm die Aufzählung von Gewinnern: ein dank Richtlinienkompetenz "aufgewerteter" Kanzler im Verbund mit Abgeordneten, denen eine Persönlichkeitswahl mehr Unabhängigkeit von ihren Parteiführungen verpasst, und einflussreichere Oppositionsparteien als Folge ausgebauter parlamentarischer Minderheitenrechte; garniert mit der beinahe obligatorischen Forderung nach einem Mehr an direkter Demokratie. Das soll allein auf Kosten von "Landesfürsten" gehen - ein Ungleichgewicht, das bereits Jörg Haiders Entwurf für eine "Dritte Republik" charakterisiert hatte.

Doch wieder die Landeshauptleute. Dem Kanzler will Strolz also geben, was diese - oder einige unter ihnen - de facto besitzen: persönlich gewendete Autorität, Popularität, Handlungsmacht. Es dürfte bei der angestoßenen Debatte tatsächlich mehr um die Landeshauptleute als Gottseibeiuns aller reformwilligen Kräfte und weniger um die Kanzlerfigur gehen - eine verkappte Föderalismusdiskussion.

Die Frage nach der Richtlinienkompetenz des Regierungschefs spielt eine nachgeordnete, im Grunde vernachlässigbare Rolle. Das gilt mit Abstrichen für die Funktion des Kanzlers selbst, wenn Reformpotenziale und Demokratiequalität gehoben werden sollen. Das ist nicht beklagenswert, sondern repräsentiert demokratischen Normalzustand. (David M. Wineroither, DER STANDARD, 26.7.2014)