Lange haben die meisten EU-Länder versucht, die dritte Stufe der Sanktionen gegen Russland zu vermeiden, auch im eigenen Interesse. Deutschland wird von den jetzt verhängten wirtschaftlichen Strafmaßnahmen vermutlich am stärksten getroffen, weit stärker als Österreich. Dennoch halten führende deutsche Wirtschaftsvertreter, auch solche mit engen Geschäftsbeziehungen zu Russland, die Schritte für notwendig. Dagegen sagt Österreichs Wirtschaftskammerpräsident Christoph Leitl, die Wirtschaft solle nicht als Instrument der Politik missbraucht werden, auch wenn man das "nationalistische Säbelgerassel" Putins nicht billige.

Dieses "Säbelgerassel" hat dazu geführt, dass die Entscheidung des souveränen Staates Ukraine für Europa zu einem blutigen Konflikt wurde, der den Frieden auf dem ganzen Kontinent gefährdet; dass die von Russland aufgerüsteten Separatisten laut einem Uno-Bericht eine "Herrschaft der Angst und des Schreckens" ausüben - und dass 298 unbeteiligte Insassen einer Passagiermaschine getötet wurden. Und nicht einmal dieses Ereignis hätte die dritte Sanktionsstufe aktiviert, würde sich Moskau bei der Aufklärung der Katastrophe kooperativ verhalten.

Leitl gibt sich als Vertreter wirtschaftlicher Interessen, die von der Politik nicht behelligt werden möchten. Zu diesem Zweck verharmlost er das Geschehen in gespielter Naivität. Das ist leider symptomatisch, weit über Wirtschaftskreise hinaus: Was nicht sein darf, kann auch nicht sein. Der Pole Radoslaw Sikorski, Außenminister eines Landes mit schmerzlichster geschichtlicher Erfahrung, sagt dazu: "Als Erstes sollten wir ... die postmoderne Illusion aufgeben, dass ein Konflikt undenkbar ist."

Mit Konflikt meint Sikorski einen Krieg, wie er in der EU undenkbar geworden ist. Das Verhalten Putins hat ihn wieder denkbar gemacht. Aber allein dadurch, dass man den Krieg nicht will, wird er nicht unmöglich. Die verschärften Sanktionen sind ein überfälliges Stoppsignal an den Kremlchef, der bisher auf die Uneinigkeit der Europäer setzte. Zugleich sind sie nicht so scharf, dass Putin das Gesicht verliert, wenn er einlenkt.

In Kenntnis der Psyche des Ex-Geheimdienstlers ist das Risiko einer weiteren Eskalation freilich relativ hoch einzuschätzen. Gerade deshalb darf Putin nicht die Chance bekommen, die Sanktionen propagandistisch zu nutzen und die antiwestliche Stimmung in der eigenen Bevölkerung weiter anzuheizen.

Im Gegensatz zu manchen Äußerungen aus den USA war die Rhetorik der Europäer bisher trotz des Ernstes der Lage weitgehend gemäßigt. Doch jetzt genügt es nicht mehr zu betonen, dass man weiter den Dialog sucht. Wie zu Beginn der Ukraine-Krise muss die EU eine proaktive Diplomatie starten. Vorrangig ist dabei eine Initiative für eine Stabilisierungs- und Sicherheitstruppe der Uno in der Ostukraine. Da Moskau eine Untersuchung des Flugzeugabsturzes unter UN-Leitung fordert, wird es eine solche Mission schwerlich ablehnen können.

Aber die Diplomatieoffensive muss weiter greifen: Sie muss Russland zu verstehen geben, dass man seine Interessen respektiert, wenn sie nach den Benimmregeln zivilisierter Staaten des 21. Jahrhunderts verfolgt werden. 25 Jahre nach dem Verschwinden des Eisernen Vorhangs ist eine gesamteuropäische Sicherheitskonferenz dringlicher denn je. (Josef Kirchengast, DER STANDARD, 31.7.2014)