Nirgendwo sonst in Europa wird so viel geschnüffelt wie im Vereinigten Königreich. Jetzt wurden die staatlichen Befugnisse noch weiter ausgedehnt, praktisch alles darf überwacht werden.

In Großbritannien werden zurzeit viele Freiheiten im Namen der Sicherheit aufgegeben. Wenige Tage vor der Sommerpause hatte die britische Regierung ein Eilgesetz durchs Parlament gepeitscht. Die Gefahr durch Terroristen, hieß es, verlange schnellstes Handeln. Alle wesentlichen großen Parteien inklusive der Opposition stellten sich hinter das Gesetz. Binnen einer Woche wurde die Data Retention and Investigatory Powers Bill, kurz DRIP, zu geltendem Recht.

Damit haben die britischen Geheimdienste nun Zugriff auf die Kommunikationsdaten der Bürger: wer sich wann wo wie lange und mit wem in Verbindung gesetzt hat, sei es über Telefon, E-Mail, Facebook-Nachricht oder andere moderne Kommunikationsformen.

Den Bürger auf der Straße regt die Schnüffelei nicht auf. Die Briten scheinen beruhigt durch die Versicherung des Premierministers David Cameron, dass keiner etwas zu befürchten habe, der nichts zu verbergen hätte. Großbritannien als Überwachungsstaat zu bezeichnen, ist keine Übertreibung: Heute werden die Bürger so intensiv und in so viel unterschiedlichen Weisen überwacht, wie es in keinem anderen Land in Europa möglich wäre.

Eine Kamera für 14 Bürger

Das fängt mit den Videokameras in den Straßen an. Es wird geschätzt, dass rund 4,2 Millionen sogenannte Closed-Circuit-TV-Kameras (CCTV) die Briten auf Schritt und Tritt verfolgen - auf 14 Bürger kommt da eine Big-Brother-Linse. Wer durch Londons Straßen geht, wird täglich von 300 verschiedenen Videokameras erfasst. Natürlich kann die Polizei mithilfe ausgereifter Software für die Gesichtserkennung die Wege verfolgen.

Großbritannien hat auch die größte forensische DNA-Datenbank der Welt, die die genetischen Daten von rund 7,2 Millionen Briten speichert, also von mehr als zehn Prozent der Bevölkerung. Auf britischen Straßen wird jedes Fahrzeug erfasst. Die Nummernschilderkennung über Kameras operiert nicht gezielt, sondern praktisch überall und automatisch, was in Deutschland gegen den Datenschutz verstößt.

Im Königreich dagegen wird massenhaft erfasst und gespeichert: Die Automatic-Number-Plate-Recognition-Datenbank in Hendon in Nordlondon notiert täglich 27 Millionen Fahrzeuge.

Im Februar wurde bekannt, dass der britische Abhördienst Government Communications Headquarters (GCHQ) eine moderne Variante von George Orwells Telescreen entwickelt hat: Durch den Telescreen kann Big Brother in die Wohnstuben hineinschauen, der Fernseher wird zum Überwachungsinstrument.

GCHQ polte einfach den Computer um: Man hackte sich ein, alle fünf Minuten machte es Klick, und die Webcam, die im Bildschirm eingebaute Kamera, schoss ein Standbild von der Person, die vor demComputer saß. Die bekam nichts davon mit, doch die Daten wurden direkt an den Geheimdienst Ihrer Majestät weitergeleitet. Die Schlapphüte beschwerten sich dann über zu viel "unerwünschte Nacktheit": "Unglücklicherweise", hieß es in einem internen Dokument, "scheint es so zu sein, dass erstaunlich viele Leute die Webcam-Konversationen dazu benutzen, intime Körperteile zu zeigen."

Wiege der Demokratie

Warum ist die Überwachung gerade in Großbritannien, der sogenannten "Wiege der Demokratie", wo früher als anderswo in Europa Freiheits- und Bürgerrechte festgeschrieben wurden, so groß? Eine Antwort mag sein, dass das Königreich keine traumatischen Erfahrungen mit seinen Sicherheitsdiensten erlebt hat. Der Bürger vertraut seinen Beschützern. Man ist überzeugt: James Bond ist ein Held, und die Geheimdienste werden schon kein Schindluder mit den Informationen treiben.

Im Kampf gegen Nazi-Deutschland war es der GCHQ-Vorgänger Bletchley Park, der mit der Überwachung des Nazi-Funkverkehrs half, den Krieg zu gewinnen. In den 1970er-Jahren schwappte der nordirische Bürgerkrieg nach England über, und die Terrorattacken führten zu einem Ausbau des CCTV-Netzes. Und als im Juli 2005 Selbstmordbomber das Londoner U-Bahn-System angriffen, war die Antwort der Sicherheitsdienste: mehr Überwachung. Es ist so banal wie zutreffend: Die Bürger glauben einfach, dass sie nichts zu befürchten haben, wenn sie nichts zu verbergen haben. (Jochen Wittmann aus London, DER STANDARD, 1.8.2014)