Sinnbild einer Ausstellung: "A Singular Form" in der Secession arbeitet mit vertrauten musealen Inszenierungen und verbreitet eine Atmosphäre des Wohlgefühls - ein Spiel der Verführung.

Foto: Oliver Ottenschläger

Wien - "Schneide den Ast ab, solange du kannst", sagt ein altes schwedisches Sprichwort. Was es bedeutet, war für den dänischen Künstler Asger Jorn (1914-1973) ganz klar: Es gehe dabei darum, den krummen Ast, den man beim Spazieren im Wald entdeckt und der sich - seiner gewundenen Form wegen - als Türgriff, Garderobenhaken oder anderes nützliches Werkzeug eigne, auch tatsächlich unverzüglich abzuschneiden. Die Assoziation zwischen Form und Funktion finde ohnehin in Sekundenbruchteilen statt, so Jorn, der in seine Theorien zu Kunst und Design stets auch Politisches und Wirtschaftliches einflocht, in seinem 1949 veröffentlichten Essay Der krumme Ast.

Die blitzschnelle Assoziation kommt freilich nicht nur beim Forstspaziergang über einen. Auch beim Flanieren durch Museen kann es passieren, dass man abstrakte Gebilde und organisch geschwungene Objekte wieder aus ihrem rein ästhetischen Gehäuse - dem White Cube - löst und in funktionelle Zusammenhänge rückbettet. Flink werden aus dem Bauch heraus Ähnlichkeiten gefunden. Beim "Abschneiden" des nützlichen Werkzeugs reagiert das Museum jedoch heikler.

Etwas kniffliger wird es hingegen, wenn man den Prozess obendrein umdreht, wie es aktuell in der Secession passiert. Das entfernt an einen riesigen Hobel, an ein monströses Tischlerutensil gemahnende Holzobjekt im Hauptraum wurde weder von Hans Arp noch von Henry Moore gefertigt, sondern ist in Wirklichkeit der Verband aus Mastfischung und Kielschwein, dem Herzstück im Rumpf eines alten Wikingerschiffs. Genauer gesagt ist es der Nachbau von Mastefisk und Kølsvin durch den dänischen, auf die Rekonstruktion prähistorischer Boote spezialisierten Schiffsbauer Peter Madsen.

Durchaus perfides Spiel

Gewiss - es ist fast hundert Jahre her, dass Marcel Duchamp ein Urinal mit dem Titel Fountain als Kunstwerk ins Museum gestellt hat. Die Idee in der Secession ist trotzdem eine andere; sie geht über den Gedanken, dass allein der Kontext aus einem Objekt ein Kunstwerk macht, hinaus. Außerdem stellt Kurator Pablo Lafuente gar nicht erst den Anspruch, das Schiffsfragment sei ein Ready-Made im Duchamp'schen Sinne. Vielmehr ist das formschöne Holz Teil seines Spiels "Wie funktioniert ästhetische Wahrnehmung?". Dazu ruft er in der Schau A Singular Form Vorstellungen zu Intention, Autorschaft, Zweck und Funktion der "Dinge" auf.

Ein bisschen perfide ist Lafuentes Versuchsanordnung schon. Denn sie arbeitet mit der manipulativen Kraft der Verführung und mit Verwirrung. Denn selten haben sich so viele Besucher der Secession auf ihrem Weg hinab zum Klimt-Fries so nachhaltig im Hauptraum verlaufen. Dottergelbe Folien in den Oberlichten sorgen für warmes Licht, durch die Tür in den Garten schimmert Blattgrün: eine lichte Atmosphäre, die jeden durch die Türen hereinsaugt und "Bleib doch noch!" zu säuseln scheint. So weichgespült wird hier im "Kirchenschiff" alles positiv. Schräg gestellte Präsentationstische (ein Setting, das aus anderen Museen vertraut ist und so vertrauenswürdige Kompetenz ausstrahlt) lenken den Blick auf die geheimnisvollen Geschwister Mastefisk und Kølsvin.

Das Auratische von deren Formen wird auch dadurch verstärkt, dass man Herkunft, Funktion oder Autor verschweigt. Genauso ergeht es bei den Bildern venezianischer Fórcolas, wie die Ruderdolle der Gondola heißt, die man für wundervoll geschnitzte, reizvoll geformte Werke eines Bildhauers hält. Dazwischen Kontaktbögen mit Fotos nordischer Volkskunst: Vom Titel A Singular Form angestiftet, beginnt man mit Formvergleichen und der Suche nach Bezügen. Funktionaler Gegenstand, Skulptur, Volkskunst - alles wird ebenbürtig. Hierarchien sind aufgelöst. Was wäre der nächste Schritt? Den Ast gar nicht mehr abschneiden zu müssen? (Anne Katrin Feßler, DER STANDARD, 4.8.2014)